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Symposion zu "Rationalität - Placebo der Wahrheit"  
  Zum zweiten Mal findet Anfang September die "philosophische Akademie" in Wien statt - ein Symposion von Studierenden und Nachwuchs-Philosophen. Provokantes Thema heuer ist "Rationalität - Placebo der Wahrheit". Kasra Seirafi, ein Mitarbeiter der "philosophischen Akademie", fasst das Thema vorab in einem Gastbeitrag zusammen - und liefert einen Überblick über die Geschichte der Rationalität als "ungeheurer Macht des Negativen".  
Die ungeheure Macht des Negativen
Von Kasra Seirafi

Westliches Denken symbolisiert seit jeher das Phantasma des Rationalen. Der abendländische Mensch bricht aus mythischer Versenkung heraus und setzt sich, geleitet von göttlicher Vernunft, auf die souveräne Spitze der Weltordnung. Vernunft siegt über Wahnsinn, Mann über Frau, das Gute über das Böse, der Zivilisierte über den Barbaren, Mensch über Natur.

Spätestens mit der neuzeitlichen Aufklärung werden die Parameter des unausweichlichen Fortschritts gesetzt und das kommende Ende der Geschichte installiert: Wissen, Kontrolle, Beherrschung, Ordnung, Effizienz, Rationalisierung gelten fortan als die Operationsmodi der emanzipativen Macht des Westens.
Denken richtet sich oft gegen sich selbst
Ein solch stumpfer Fortschritts- und Rationalitätsglaube trifft jedoch nicht auf alle philosophischen Konzepte zu. Denken richtet sich oftmals reflexiv und kritisch gegen sich selbst. Wir müssen unser Augenmerk auf jene Stellen in der Philosophie lenken, die nicht davor scheuen, in den Abgrund ihrer eigens aufgerichteten Rationalität zu blicken.

Hinter der Fassade von Vernunftglauben und Logozentrismus schlummert etwas, was Hegel einmal die "ungeheure Macht des Negativen" nannte. Jedem Vernünftigen wohnt das Irrationale inne, jeder Begriff bezieht sich auf das was er nicht ist, rationale Systeme kippen in ihr Gegenteil.
Nicht aufzuheben, sondern zu ertragen
Das Negative ist "die Energie des Denkens" (Hegel), in jeder gedanklichen Bestimmung enthalten. Paradoxien, Aporien, Unentscheidbarkeiten, wie sie jedem Denken zu Grunde liegen, können nicht logisch umgangen oder eingemauert werden.

Das Negative kann nicht aufgehoben, sondern nur ertragen werden. Als Differenz wird es zum Antrieb einer Bewegung, die ihre eigene Unabschließbarkeit zum Prinzip erhebt.
Kant: Laut Heine ein "Alleszermalmer"
Schon Immanuel Kants Vernunftkritik wird von der Macht des Negativen gespeist. Schockiert über die zersetzende Wirkung beschreibt Heinrich Heine Kant als den "Alleszermalmer".

Die großen metaphysischen Vernunftideen Welt, Seele und Gott als existent zu beweisen, scheitert in der "Kritik der reinen Vernunft" an der konsequenten Anwendung der Vernunft selbst, an ihrer eigenen Negativität.
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Das Symposion der "philosophischen Akademie" findet vom 8. - 11. September 2005 im Wiener Museumsquartier statt. Das diesjährige Thema lautet: "Rationalität - Placebo der Wahrheit".
->   Mehr über das Symposion
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Eine brüchige Welt
Die Welt "an sich" ist nie direkt fassbar, sondern über Begriffe vermittelt, mit denen wir Welt immer schon strukturieren (Zeit, Raum, Ursache - Wirkung usw.). Die Welt, wie sie uns gegeben ist, ist ein diffuses, ungeordnetes Chaos von Sinneneindrücken, absolute Differenz oder besser: Indifferenz.

Die Begriffe und Konzepte, mit denen wir dieses Chaos ordnen, die Signifikanten-Netze, die wir um sie spannen, sind jedoch brüchig. Jede Theorie über Welt kann jederzeit vom Realen erschüttert werden, was zur Verwerfung oder Transformation der Theorie führt.
Unabschließbarkeit von Begriffen und Bedeutung
Die Welt als Ganzes, Unsterblichkeit oder Gott sind nie zu erreichende Ideen. Erkenntnis ist kontingent und jeder Begriff in seiner Eindeutigkeit nur vorübergehend. Eine endgültig rationale Auflösung des Seins ist auf Grund der Unabschließbarkeit von Begriffen und Bedeutung unmöglich.

Noch radikaler wird später Friedrich Nietzsche unsere Weltkonzeption als ein "bewegliches Heer von Metaphern" und Wahrheiten als "Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind" dekonstruieren.
Poststrukturalismus thematisierte ...
Gerade die Tatsache, dass das Reale ein prinzipielles Scheitern ist, führt zur notwendigen Bildung von Begriffen, ohne die weder erkannt, noch gehandelt werden könnte.

Jedoch führt sie auch zu rationeller Gewalt und deren Ausschlussmechanismen: Mensch/Natur, Vernunft/Gefühl, Mann/Frau oder Okzident/Orient sind Grenzziehungen, entlang derer sich das abendländische Subjekt immer schon aufgerichtet und legitimiert hat.

Hier werden die Arbeiten von Jacques Derrida, Michel Foucault oder Judith Butler wichtig, die gerne der Strömung des Poststrukturalismus zugerechnet werden.
... die Konstruiertheit der Begriffe
Jene TheoretikerInnen thematisieren die verschiedenen Mechanismen, welche gerade die Konstruiertheit und Kontingenz von Begriffen leugnen und als naturgegebene, eindeutige Wirklichkeiten installieren wollen.

Dagegen setzt der Poststrukturalismus eine (oft uneingestandene) normative Ausrichtung, die Vielfalt, Differenz und Entgrenzung als Prinzipien bestimmt.
Auf der Suche nach einer postmodernen Ethik
Eine postmoderne Ethik und Politik muss ihre eigenen Prämissen und Begriffe, Gruppierungen und Akteure, Interessen und Zwänge, immer wieder auf ihre Grundlagen hin prüfen, auflösen und neu verhandeln.

Um diesen Ansatz vor dem Vorwurf eines nihilistischen "anything goes" und vor einem Umschlag in eine Unterdrückung im Namen der Differenz zu bewahren, könnte der Poststrukturalismus mit Kant aufgeholt werden.
Rückgriff auf Kant
Bei Kant kann kein notwendiges materiales Prinzip des Handelns rational hergeleitet werden. Tugenden wie Glückseligkeit, theoretisches Leben oder hedonistische Ideale können nicht mit Sicherheit das ewig gleich bleibende Ziel des Handelns sein.

Welt und Mensch sind dynamische Größen, die sich ständig verändern - sie sind Teile der "empirischen Welt". Und diese ist unendlich offen, da sie nie abgeschlossen beschrieben werden kann.
Formales Prinzip des "kategorischen Imperativs"
Der kategorische Imperativ versucht ein formales Prinzip zu definieren, in dem nicht Werte oder Normen, sondern überhaupt erst die Bedingungen von Freiheit in einer Gesellschaft festgesetzt werden.

Dabei wird bekanntlich von jeder Handlungsbegründung ("Maxime") verlangt, dass sie verallgemeinerbar sein sollte. Dies heißt jedoch nicht, dass alle gleich Handeln müssen, sondern dass Handlungsgründe eines Menschen oder einer Gruppe nicht diejenigen von anderen unterminieren sollen.
Versuch von Offenheit und Freiheit
Dass der andere immer auch als "Zweck", nicht bloß als "Mittel" gesehen wird: Dieser Zweck ist die eigene Freiheit der potenziell unendlichen Vielfalt des Handelns und eben nicht ein universales Zwangsgesetz.

Kants "Sittengesetz" wäre somit ein negatives Prinzip, das die Unmöglichkeit von eindeutigen und immer gleich bleibenden materialen Werten hervorhebt, indem es Offenheit und Vielfalt erhält. Erst da, wo es zur Einschränkung und Beschneidung der Vielfalt kommt, schreitet es einschränkend ein.

Problematisch wird es, wenn sich verschiedene Freiheiten widerstreiten: Dies ist die Bühne des gesellschaftlichen Konflikts und Kampfes. Ein Kampf, in dem niemand universale oder ursprüngliche - und damit unkritisierbare - Werte für sich gepachtet hat.
Radikaler Liberalismus als Regulativ
Die Entwicklung eines solchen radikalen Liberalismus (nicht zu verwechseln etwa mit einem ökonomisch-ideologischen Neoliberalismus) würde dem Konzept einer Sprengung von ideologischer Hierarchisierung und rationeller Gewalt ein Regulativ zur Verfügung stellen, welches Kritik, Dekonstruktion, Verschiebung, Vervielfältigung und ständige Neuverhandlung nicht verhindern, sondern gerade erst ermöglichen würde.

Somit könnte die philosophische Grundlage für eine Ethik gelegt werden, die das Negative, das Scheitern und die Unmöglichkeit zum Prinzip erhebt, um gerade so produktiv und erschaffend zu sein, ohne sich zerstörerisch gegen sich selbst zu wenden.

Wo das Negative der Rationalität nicht als Vernichtung sondern gerade als ihr Retter auftritt. Als das kritisch-reflexive Moment, das sich unendlich gegen die Gewalt von Rationalität und Irrationalität stemmt.

[19.7.05]
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Über den Autor
Kasra Seirafi, geb. 1978, studierte "Computer Science" an der University of Derby (England) und ist berufstätig in der IT-Branche. Seit 2001 Studium der Philosophie, Politikwissenschaft und Soziologie in Wien (Schwerpunkte: Gesellschaftstheorie und politische Theorie) und seit 2004 Mitarbeiter der philosophischen Akademie.
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->   Philosophische Akademie 2004 zum Thema "Ethik" (7.9.04)
 
 
 
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01.01.2010