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Plädoyer für gutes Deutsch  
  "Die Dividenden steigen - und die Proletarier fallen": Der Sprachexperte Wolf Schneider findet diesen berühmten Satz von Rosa Luxemburg wunderschön. Nicht so sehr wegen seines Inhalts, sondern wegen der kräftigen Worte und der klaren Struktur. In einem neuen Buch hält er ein inniges Plädoyer für "gutes Deutsch" - und liefert 44 Tipps für attraktive Texte.  
Aus "kräftigen Worten schlanke Sätze bauen - Sätze ohne Verrenkungen. Sätze, die von der Sehne schnellen wie ein Pfeil", das ist das Credo von Wolf Schneider.

Er war Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung", Verlagsleiter des "Sterns", und Chefredakteur der "Welt". 16 Jahre lang leitete er zudem die Hamburger Journalistenschule.

Ein Mann also, bei dem man das Rufzeichen in seinem neuesten Buch "Deutsch!" glaubhaft als Imperativ verstehen kann.
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Das Buch
Wolf Schneider: Deutsch! Das Handbuch für attraktive Texte, Verlag Rowohlt 2005
->   Mehr über das Buch (Rowohlt)
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Zeugenschaft bei der Bürgschaft
Wolf Schneiders Ratschläge im Kurzformat: "Man schreibe kurzweilig und nicht langweilig, muskulös und nicht fett, körnig und nicht seifig, konkret und nicht abstrakt, anschaulich und nicht schwer durchschaubar im Nebel der Begriffe."

Beispiele dafür findet der deutsche Sprachexperte zuhauf, meistens liegen sie geschichtlich schon ein wenig zurück. Neben Rosa Luxemburg zitiert er gerne Heine, Goethe, Luther - und Schiller.

Dieser schrieb beispielhaft in der "Bürgschaft": "Da treibt ihn die Angst, da fasst er sich Mut und wirft sich hinein in die brausende Flut und teilt mit gewaltigen Armen den Strom, und ein Gott hat Erbarmen."
Wenn Menschen reden: Gebet und Geschwätz
Wolf Schneiders Handbuch für "attraktive Texte" ist zweigeteilt. Nach einer kritischen Diagnose des Patienten "deutschsprachiger Text der Gegenwart" folgen 44 Rezepte "für die Therapie".

Dass es schlimm bestellt ist um die deutsche Sprache, das ist die Ausgangsthese des Buches. In seinen etwas Ressentiment-geladenen Worten: "Das mündliche Wortaufkommen der Menschheit besteht überwiegend aus dem Gebet und dem Geschwätz."

Diese Geschwätzigkeit sei speziell durch Privat-TV zwar "sendefähig" geworden, zumindest die geschriebene Sprache sollte sich aber von ihr freihalten.
Ziel von Texten: Verstanden werden
Ziel dieser Texte sei es, von Lesern oder Zuhörern verstanden zu werden und Interesse für das Beschriebene zu wecken - eine Definition, mit der sich science.ORF.at vollinhaltlich einverstanden zeigt.

Der Wille verstanden zu werden, ist aber nicht besonders ausgeprägt - und da trifft sich die Presse mit "weiten Teilen der Wissenschaft", diagnostiziert Schneider.

Zunftjargon, Desinteresse und Hochmut seien die Spielarten dieses Phänomens, elitäre Wörter und der Schachtelsatz die beliebtesten Mittel.
Wissenschaftsjargon "auf die Pelle rücken"
Rezept Nummer 24 der insgesamt 44 Therapievorschläge widmet sich so auch dem "Jargon" - es gilt in schönem bundeshochdeutsch, den "Wissenschaftlern auf die Pelle zu rücken".

Allen Jargons gemeinsam ist es laut Schneider: die Verständigung unter den Dazugehörenden zu erleichtern und vor den Nichtdazugehörenden eine Barriere zu errichten - "großteils in lustvoller Abgrenzung".

Dass man nicht alles verständlich ausdrücken kann, was sich in Mikrobiologie oder Nanotechnologie ereignet, sei wohl wahr - aber eben nur zum Teil, meint Schneider. Viele Sprachhürden seien unnötig, ein Übermaß griechischer oder lateinischer Fachbegriffe etwa.
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Zwei Beispiele
Statt von der Phase zu sprechen, in der unser Urahn lernte, auf zwei Beinen zu gehen, zog es ein Anthropologe vor, "den Aufstieg des Australopithecus von der quadrupeden zur habituellen bipeden Lokomotion" zu schildern. Und auch Mediziner könnten aus der Diagnose "Epistaxis" und "Ekchymose" ruhig ein allgemein verständlicheres Nasenbluten und einen blauen Fleck machen.
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Bedeutungslose Geisteswissenschaften
Die Naturwissenschaften kommen bei Wolf Schneider aber noch vergleichsweise gut weg. Denn deren Resultate "interessieren uns durchaus" - im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften: "Ihre Einsichten sind wenig gefragt und für den Alltag der meisten Bürger ohne Belang."

Warum das jemand in perfektem Deutsch sagt, der sich ein Leben lang mit der Sprache beschäftigt hat, bleibt schleierhaft. Dass man in der Soziologie oder Philologie jedoch viele schwer bis unverständliche Sätze findet, ist zweifellos wahr.
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Noch zwei Beispiele
Schneider zitiert einen Text ausgerechnet vom "Institut für deutsche Sprache": "Unter Stilwandel wird demnach verstanden: synchronisch oder metachronisch beschreibbarer Verlust oder Gewinn pragmatischer (perlokutiver) Markiertheit von dem stilistisch handelnden Subjekt jeweils verfügbaren sprachlichen bzw. semiotischen Instrumentarien, bezogen auf deren sozial durchschnittlichen Gebrauch in spezifischen Organisationsformen von Kommunikation."

Und auch Rudi Dutschke, ehemaliger Anführer der 68er-Studentenbewegung, taugt heute noch als ein Beispiel für schlechtes Deutsch: "Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen."
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Ein guter Tipp zum Schluss
Abgesehen von manchen nostalgischen Anekdoten, die mitunter in Kulturpessimismus abgleiten, liefert Wolf Schneiders Buch sehr brauchbare Tipps, wie Texte besser zu schreiben sind. Es wendet sich an alle, die berufsmäßig schreiben - das beginnt bei Journalisten und Werbetextern und reicht bis zu den Wissenschaftlern.

Denn auch die sollten sich in Zeiten, in denen die Öffentlichkeit immer stärker ihr Recht auf Information und Teilhabe an Wissenschaft formuliert, an die Schlussregel von Wolf Schneider halten: "Liebe deinen Leser wie dich selbst."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 22.7.05
->   Mehr über Wolf Schneider (Wikipedia)
->   Wolf-Schneider-Sprachseminar
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   "Wissenschaftler achten zu wenig auf Sprache" (8.3.05)
->   Seriously Deutsch: Die Anglifizierung der Wissenschaft (11.6.02)
->   Deutsch als Wissenschaftssprache (7.8.01)
 
 
 
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01.01.2010