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"Körperlandkarte": Wie das Gehirn Reize verarbeitet  
  Gleichgültig, ob man den Wind oder das T-Shirt auf der Haut spürt - jeder Sinneseindruck dient dem Gehirn dazu, in einem kontinuierlichen Prozess die Außengrenzen des Körpers und seine Bewegung wahrzunehmen. Französische Forscher konnten nun zeigen, dass das Körperempfinden innerhalb von Bruchteilen von Sekunden adjustiert wird. Für ein stimmiges Bild werden vom Gehirn auch widersprüchliche Empfindungen "hingebogen".  
Frederique de Vignemont vom Institut für Wahrnehmungswissenschaften in Lyon und Kollegen vom University College London reizten den Bizeps- bzw. Trizeps-Muskel von Versuchspersonen, woraufhin sich im Empfinden der Probanden sofort der Arm abwinkelte bzw. durchstreckte.

Aber nicht nur diese Empfindung wurde vom Gehirn vorgetäuscht, es modulierte scheinbar fixe Konstanten, damit sie ins Bild der Eigenwahrnehmung passten: So spürten die Versuchspersonen plötzlich die eigenen Finger schrumpfen bzw. länger werden.
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Die Studie "Bodily Illusions Modulate Tactile Perception" von Frederique de Vignemont, Henrik H. Ehrsson und Patrick Haggard ist am 26. Juli 2005 in "Current Biology" erschienen (Band 15, S. 1286-1290, DOI:10.1016/j.cub.2005.06.067).
->   Current Biology
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Mit Propriozeption zum Körpergefühl
"Propriozeption" lautet der Fachausdruck für die Selbstwahrnehmung. Dazu werden alle Empfindungen gezählt, die dem Gehirn von Sinnesrezeptoren zugeleitet werden.

Die Eigenwahrnehmung vermittelt dem Gehirn, wann und in welchem Umfang sich Muskeln zusammenziehen oder strecken und wann und in welchem Ausmaß sich Gelenke beugen, strecken oder gezogen bzw. gedrückt werden.

Die Propriozeption ermöglicht dem Gehirn, in jedem Augenblick zu erkennen, wo jeder Körperteil sich befindet und wie er sich bewegt.
->   Mehr über Propriozeption in Wikipedia.de
Eigenwahrnehmung speist sich aus vielen Quellen
Die Eigenwahrnehmung ist ein "Perpetuum mobile", sie wird ständig mit jenen Eindrücken aktualisiert, die auf das Gehirn wie ein Dauerregen niedergehen.

Damit man die richtige Empfindung von sich selbst hat, werden Eindrücke verschiedenster Sinne miteinander kombiniert: Der Tastsinn spielt genauso eine Rolle wie die Schmerzwahrnehmung, der Sehsinn und Informationen von Muskelbewegungen.
Wichtiges aus Informationsflut filtern
"Das Gehirn muss einen ständigen Balance-Akt vollführen, um aus dem Informationsmeer sinnvolle Anleitungen für Körperbewegungen ableiten zu können", beschreiben Frederique de Vignemont und Kollegen in ihrer Studie.

Dass es sich dabei um einen hochdynamischen Prozess handelt, bei dem ständig "Updates" durchgeführt und Sinneseindrücke zum Zweck eines stimmigen Bildes sogar verfremdet werden, wiesen die Kognitionswissenschaftler anhand zweier Experimente nach:
Experiment: Scheinaktivität für das Gehirn
 
Grafik: Current Biology

Versuchspersonen, denen die Augen verbunden wurden, mussten mit dem rechten Zeigefinger und Daumen den linken Zeigefinger festhalten. Danach wurden abwechselt die zum Trizeps bzw. Bizeps führende Sehne durch Vibrationen stimuliert, was dem Gehirn eine Scheinaktivität vorspielte.
Wachsende und schrumpfende Finger
Die Stimulation zeigte zwei Effekte: Die Probanden hatten sofort das Gefühl, dass sich der Arm streckt bzw. abwinkelt. Und auch die Wahrnehmung des Fingers wurde moduliert: Empfanden sie eine Streckung des Arms, spürten sie auch den linken Zeigefinger wachsen. Bei einer Abwinkelung sprachen sie davon, dass der Finger in ihrer Wahrnehmung schrumpfen würde.

Die illusionäre Längenveränderung des Fingers war die einzige Möglichkeit des Gehirns, die aus der Muskelaktivität gespeiste Eigenwahrnehmung mit der widersprüchlich ruhigen Position des Fingers in Einklang zu bringen.
Veränderung des Tastsinns
Als nächstes wollten die Forscher wissen, ob und wie das Körpergefühl auch die Wahrnehmung äußerlicher Objekte durch den Tastsinn verändert.

Dazu berührten sie die Versuchspersonen am festgehaltenen Zeigefinger mit zwei Metallstäben und baten sie zu schätzen, ob der Abstand zwischen ihnen größer, kleiner oder gleich groß ist wie jener zwischen zwei Stäben, die sie gleichzeitig auf ihrer Stirn spürten.

Auch hier veränderte die scheinbare Muskelaktivität die Wahrnehmung: Hatten die Probanden das Gefühl, dass ihr Finger wuchs, überschätzten sie auch den Abstand zwischen den Stäben - und umgekehrt.
Sensorische Systeme eng verknüpft
Die Studie beweise die enge Verknüpfung der einzelnen sensorischen Systeme, schreiben Frederique de Vignemont und Kollegen.

Ein abnormaler Input über ein System verändert sofort die Wahrnehmung eines anderen. Im konkreten Fall habe die Verarbeitung von Muskelaktivität im Gehirn den Tastsinn verfremdet.
Gehirn aktualisiert ständig die Landkarte des Körpers
Diese engen "Links" zwischen den Sinnen zeigen, dass das Gehirn die Landkarte des Körpers ständig aktualisiere.

Jede neue Sinneswahrnehmung werde in Sekundenschnelle integriert und mit den anderen Reizen abgestimmt - zur Not wird eben eine Empfindung gegen die Vernunft moduliert.

[science.ORF.at, 26.7.05]
->   Institut des Sciences Congnitives (Lyon)
->   University College London
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01.01.2010