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Lügt die Geschichtswissenschaft?  
  Eine brisante Frage, die von den Historikern Tillmann Bendikowski, Arnd Hoffmann und Diethard Sawicki in ihrem jüngst erschienenen Buch "Geschichtslügen. Vom Lügen und Fälschen im Umgang mit der Vergangenheit" mit einem entschiedenen Jein beantwortet wird.  
Ein Jein, das der Historikerzunft vielleicht allzu vertraut in Ohren klingt, hat sich eine innerdisziplinäre Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Funktion des von der Geschichtswissenschaft produzierten Wissens doch erst in den letzten Jahren entwickelt ¿ im deutschsprachigen Raum zuletzt mit der mühevollen und schmerzhaften Debatte um die Rolle der Historiker im Nationalsozialismus.
Ein weites Feld

Reflexion der eigenen Bedingungen und Grenzen fällt der Geschichtswissenschaft scheinbar schwer und auch dieses Buch verschiebt die im Titel und im Vorwort zumindest berührte Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Lüge in der Disziplin selbst zugunsten der analytischen Lektüre ausgewählter "Geschichtslügen" und einer theoretischen Klärung des Begriffs.

Der Kampf um die Wahrheit wird, glaubt man den Autoren, anderswo ausgefochten, nämlich in der Politik, in der Gesellschaft vielleicht, jedenfalls aber jenseits der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Vergangenheit: "(...) im Übergang von Geschichtswissenschaft und lebensweltlicher Beschäftigung mit der Vergangenheit eröffnet sich ein weites Feld der Uneindeutigkeit, Ungewissheit und Unübersichtlichkeit, auf dem heftige Auseinandersetzungen um Lügen und Fälschungen stattfinden."
Wer lügt?
Die Geschichtswissenschaft ist seit ihrer Erfindung der Quellenkritik nur selten mit "kommunikativen und materialen Täuschungen" (Lügen und Fälschungen) aus den eigenen Reihen konfrontiert, dies legt zumindest die theoretische Klärung des Begriffs der "Geschichtslüge" von Arnd Hoffmann nahe.

Das Fälschen, Verdrehen, Lügen, Verleugnen ist so zum Beispiel eine Spezialität der akademischen Außenseiter wie Heribert Illig. Diethard Sawicki geht in seinem Beitrag der Funktionsweise der Illigschen These vom "erfundenen Mittelalter" nach und kommt zu dem Schluss: "Die Geschichtswissenschaft (...) darf nicht als eine Disziplin missverstanden werden, die sich immer mehr einer aus den Quellen wiederzugewinnenden realen Geschichte nähert. Es geht ihr vielmehr um immer neue und andere Interpretationen vergangenen Geschehens, die sich aus den veränderlichen Erkenntnisinteressen der Gegenwart herleiten."

Insbesondere der Zeitgeschichte kommt im Sinne der Autoren damit die Aufgabe zu, diese Erkenntnisinteressen zu benennen, d.h. die diskursiven Zusammenhänge von "Geschichtslügen" herauszuarbeiten, um möglicherweise als "Korrektiv" eingreifen zu können.

So fragt das Buch auch nicht weiter danach, wer lügt und warum, sondern stellt die - weitaus interessantere - Frage, wann und in welchem Zusammenhang jemand den Vorwurf der Lüge erhebt.
Karriere eines Begriffs
Im 19. Jahrhundert in den konfessionellen Kämpfen zwischen Protestanten und Katholiken entstanden, hat der Vorwurf der "Geschichtslüge" vor allem in den Auseinandersetzungen um die nationalsozialistische Vergangenheit Karriere gemacht: In seiner Analyse der (deutschen) Bundestagsdebatte zur Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944" zeigt Tillmann Bendikowski, dass der Vorwurf der "Geschichtslüge" keineswegs allein ein Instrument des Kampfes der Rechten ist. Befürworter und Gegner der Ausstellung bedachten sich gegenseitig gleichermaßen mit dem Lügenvorwurf.

Wie bereits Arnd Hoffmann schließt Bendikowski aus dieser Pattsituation, dass der Vorwurf immer dann erhoben wird, wenn eine verbindliche Deutung der Gegenwart zur Disposition steht und auf diese Weise der "Kampf um das Deutungsmonopol der Gegenwart" zu den jeweils eigenen Gunsten entschieden werden soll.
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"Wehrmachtsausstellung"
Die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944" des Hamburger Instituts für Sozialforschung stand seit dem 4. November 1999 unter einem Moratorium, nachdem die Echtheit bzw. richtige Zuordnung einiger Bilder angezweifelt wurde. Die Ausstellung wurde durch eine Kommission überprüft und neu konzipiert. Die neue Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 - 1944" wird im November 2001 in Berlin eröffnet werden.
->   Hamburger Institut für Sozialforschung
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Geschichte als Aufklärung?
Eine Einschätzung, die auch von Hans Mommsen in einem ausführlichen Interview geteilt wird. Angesprochen auf seine Rolle in der so genannten "Reichstagsbrandkontroverse" bezweifelt Mommsen allerdings die aufklärerische Kraft und das korrektive Vermögen der Geschichtswissenschaft: "Es hat vierzig Jahre gedauert, um die Reichstagsbrand-Legende einigermaßen aus der Welt zu bekommen, weil sie bestimmten dominanten Tendenzen in der öffentlichen Meinung und der Geschichtsschreibung entsprach."
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'Reichstagsbrandkontroverse'
Am 27. Februar 1933 brannte der deutsche Reichstag. Bis heute ist die Täterschaft nicht eindeutig geklärt. Anfang der Sechzigerjahre spitzte sich die so genannte Reichtagsbrandkontroverse zu, bei der sich zwei Positionen gegenüberstanden: Auf der einen Seite Vertreter der "Alleintäterschaftsthese" wie Hans Mommsen, die argumentierten, Marinus van der Lubbe, der am 10. Januar 1934 von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde, sei allein für den Brand verantwortlich. Auf der anderen Seite jene, die argumentieren, der Brand sei von den Nationalsozialisten selbst gelegt worden.
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Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Hans Mommsen seine nach wie vor vertretene These der Alleintäterschaft Marinus van der Lubbes der "Vorstellung, einem möglichst starken Diktator erlegen zu sein" als "dominante Tendenz" entgegengestellt sehen will. Dass die "Alleintäterschaftsthese" der historischen Aufklärung dient, ist allerdings genau der strittige Punkt, waren doch die Nationalsozialisten die ersten, die diese These vertraten. Der Mommsen gegenüber häufig vorgebrachte Vorwurf läuft dementsprechend darauf hinaus, dass die "Alleintäterschaftsthese" dem Nationalsozialismus den systematischen Charakter abspreche und damit als einen Unfall in der Geschichte darstelle.

Dieser Zusammenhang wäre durchaus der intensiven Nachfrage und vor allem der Erörterung in einem Einzelbeitrag wert gewesen, zumal in einem Buch, das sich den Geschichtslügen in aufklärerischer Absicht widmen will. Schade.

Cathren Müller
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Das Buch von Tillmann Bendikowski, Arnd Hoffmann, Dieter Sawicki, "Geschichtslügen. Vom Lügen und Fälschen im Umgang mit der Vergangenheit", ist im Mai 2001 im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienen und kostet 218 Schilling.
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01.01.2010