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Schrecken ohne Ende: Der einstige Chemiekonzern I.G. Farben wird 80  
  Eigentlich dürfte es die I.G. Farben längst nicht mehr geben. Der Zusammenschluss deutscher Chemie-Unternehmen zum weltgrößten Konzern der Branche, der am 9. Dezember genau 80 Jahre zurückliegt, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten rückgängig gemacht.  
Der Restkonzern - Überbleibsel eines Unternehmens, das während des Nazi-Regimes unsägliches Leid verursachte - soll seit Jahrzehnten abgewickelt werden. Inzwischen wacht eine Insolvenzverwalterin über die wenigen verbliebenen Vermögenswerte. Dennoch wird mit den Aktien der I.G. Farben immer noch kräftig spekuliert.
Acht Unternehmen schließen sich zusammen
Im Dezember 1925 besiegeln acht deutsche Chemie-Unternehmen, die seit längerem zusammenarbeiten, die Fusion zur "Interessengemeinschaft Farben". Die bekanntesten unter ihnen, Bayer, BASF und Hoechst, sind Industrie-Titanen, die weltweit bei der Herstellung künstlicher Farbstoffe vorn liegen.
Hitler wusste um Bedeutung der Konzerne
Obwohl Hitler den Konzernen mit ihren internationalen Verflechtungen zu Beginn seiner Terrorherrschaft skeptisch gegenübersteht, weiß er um die Bedeutung der I.G. Farben für seine Rüstungspläne. So spielt der Chemie-Gigant dann auch eine zentrale Rolle für die Nazis.

Ohne diese Konzentration wirtschaftlicher Macht - so formulierte es eine vom späteren US- Präsidenten Eisenhower beauftragte Expertengruppe - hätten sie den Zweiten Weltkrieg 1939 wohl nicht beginnen können.
Aktive Beteiligung an Vernichtungslagern
Während des Krieges beschäftigt die I.G. Farben Tausende von Zwangsarbeitern - auch im Massenvernichtungslager Auschwitz. Dort werden die Opfer der Nazis durch das Giftgas Zyklon B ermordet, hergestellt von einer gemeinsamen Tochter der Degussa und der I.G. Farben.
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Aufspaltung nach dem Krieg
Nach der Niederlage Deutschlands wird der Konzern aufgespalten, und die ehemaligen Bestandteile entwickeln sich in den Jahrzehnten des Wiederaufbaus zu blühenden Unternehmen.

Übrig bleibt die "I.G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft in Abwicklung". Ihr gegenüber sollen ehemalige Zwangsarbeiter ihre Forderungen geltend machen können.

Auf Rest-Vermögen in Ostdeutschland hat das Unternehmen jedoch zunächst keinen Zugriff.
->   Mehr über die I.G.-Farben bei Wikipedia.de
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Zwei "Liquidatoren" werden eingesetzt
Im Laufe der Jahrzehnte bereichern sich diverse Finanzjongleure an der I.G. Farben, deren Liquidationsscheine an der Börse gehandelt werden. Auch nach der Wiedervereinigung existiert das Unternehmen weiter - mit einem kleinen Büro in Frankfurt unweit des ehemaligen Hauptquartiers, des 1930 von Hans Poelzig erbauten I.G.-Farben-Hauses.

Heute wird dieses überdimensionierte Gebäude mit mehr als 700 Räumen von der Universität genutzt. Den Restkonzern leiten zwei so genannte "Liquidatoren" - seit 1998 sind es der Bundestagsabgeordnete Otto Bernhardt (CDU) und der Rechtsanwalt Volker Pollehn. Sie gründen eine Stiftung, die sich um das wertvolle historische Archiv der I.G. Farben kümmern soll.
2003: Insolvenz angemeldet, kein Geld für Entschädigungen
Fünf Jahre später geht das merkwürdige Unternehmen auch noch pleite. So verrückt es klingt, die I.G. Farbenindustrie AG in Abwicklung meldete 2003 Insolvenz an. Zur Insolvenzverwalterin wird die von den Liquidatoren wenig geschätzte Rechtsanwältin Angelika Amend ernannt.

"Ich bin froh, dass wir dieses fürchterliche Kapitel in der deutschen Geschichte nun endlich zum Abschluss bringen können", resümiert sie. Derzeit würden noch obskure Tochtergesellschaften abgewickelt, um die Gläubiger zu befriedigen. "Damit am Ende etwas übrig bleibt, müsste ein Wunder geschehen."

Im Klartext heißt das: Die ehemaligen Zwangsarbeiter, die bis zuletzt ihren moralischen Anspruch auf eine Entschädigung geltend machen, werden leer ausgehen.
Klage beflügelt Aktienhandel
Ein "Wunder" ist allerdings genau das, was den Handel mit I.G.- Farben-Anteilen an der Börse beflügelt: Dahinter verbirgt sich eine mögliche Klage gegen die Schweizer Großbank UBS, deren Vorgängerinstitut sich eine ehemalige Tochtergesellschaft der I.G. Farben einverleibt haben soll.

Die angeblichen Ansprüche aus diesem Vorgang könnten dem insolventen Unternehmen zustehen, heißt es. Seit Jahren geistern daher vermeintliche Milliarden-Forderungen durch die Medien. Auch Ex-Liquidator Bernhardt hofft, dass daraus Mittel für die Stiftung abspringen, die bisher nur über 250.000 Euro verfügt. Insolvenzverwalterin Amend ist hingegen skeptisch.
Keine Forschung im I.G.-Farben-Archiv
Derweil steht das ausgelagerte I.G.-Farben-Archiv für wissenschaftliche Arbeiten nicht zur Verfügung. Die Historiker vom renommierten Fritz-Bauer-Institut, einem Frankfurter Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust, haben nach eigenen Angaben gerade um eine erste Sichtung des Materials gebeten, zugänglich ist es bis heute nicht.

Während skrupellose Investoren mit I.G.-Farben-Aktien Kasse machen, bleiben nicht nur die Ansprüche der früheren Zwangsarbeiter unerfüllt - auch ihrer Geschichte kann sich niemand annehmen.

Alexander Missal/dpa, 9.12.05
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01.01.2010