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Die politische Utopie: Ende oder neuer Anfang?  
  Ist die politische Utopie nach dem Zusammenbruch des Sozialismus an ihrem Ende angelangt, oder gibt es Visionen, die bei der Lösung aktueller Probleme unverzichtbar sind? Der Politikwissenschaftler Richard Saage, am Dienstag zu Gast im Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), zeigt in einem Gastbeitrag, dass der utopische Denkansatz lernfähig ist - und angesichts massiver Fehlentwicklungen im globalen Kontext gerade heute als regulatives Prinzip wirken kann.  
Reflexionen über die Zukunft der politischen Utopie
Von Richard Saage

Wenn man den Seismographen des Zeitgeistes trauen darf, hat die politische Utopie ihre Zukunft bereits hinter sich. Schon 1985 konstatierte Jürgen Habermas die "Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung der utopischen Energien".

Vier Jahre später, einige Wochen nach Öffnung der DDR-Grenzen, erteilte Günter Kunert der Utopie des demokratischen Sozialismus eine schonungslose Abfuhr. Statt attraktiv für die Masse der DDR-Bevölkerung zu sein, greife "die nach vierzig Jahren Tristesse ungeduldige Mehrheit (...) lieber nach dem nächstliegenden: den Bananen bei 'Aldi' ".

Und im März 1990 feierte Hans Magnus Enzensberger die von den Massen im östlichen und westlichen Teil Deutschlands spontan vollzogene Vereinigung als einen schlagenden Beweis dafür, dass es nur noch eine Möglichkeit gebe, über politische Utopien zu reden, nämlich in der literarischen Form eines "Nachrufs".
Entzauberung durch die Realität
Es wäre falsch, würde man den realistischen Kern dieses Abgesanges auf die politische Utopie verkennen. In dem Maße, wie ihre Projektionen im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts von der gesellschaftlichen Realität eingeholt wurden, setzte zugleich ihre Entzauberung ein.

Mit dem Zusammenbruch des realen Staatssozialismus in Europa ist die etatistisch-autoritäre Linie des utopischen Denkens an ihr Ende gekommen.

Dennoch ist, so meine These, damit nicht das utopische Denken als ganzes diskreditiert. Denn der Problemdruck, der seit Morus in der Neuzeit Utopien hervorbrachte, besteht weiter.
->   Der Begriff der Utopie (Wikipedia)
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Das Gebäude des IWM an der Spittelauer Lände / © IWM
Vortrag am IWM: Dienstag, 20. Dezember
Richard Saage hält am Dienstag, 20. Dezember (18.00 Uhr), am IWM einen Vortrag, der die in diesem Gastbeitrag beleuchteten Themen und Fragen behandelt. In Kooperation mit der Grünen Bildungswerkstatt. Kommentator: Alexander Van der Bellen, Grüner Bundessprecher und Klubobmann der Grünen im Nationalrat.

IWM, Spittelauer Lände 3, 1090 Wien, U4 Friedensbrücke (events@iwm.at; Tel.: 01-313 58 0).
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
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Phänomene des Reagierens
Politische Utopien sind immer auch Phänomene des Reagierens: Sie antworten seit Morus auf erkennbare Fehlentwicklungen und Krisen des gesellschaftlichen und heute sogar globalen Kontextes, innerhalb dessen sie entstanden sind.

Die Utopisten der Renaissance und der Aufklärung reagierten auf die Willkür des absolutistischen Staates, auf die Privilegien der Ständegesellschaft und die von Feudalismus und Frühkapitalismus betriebene Ausbeutung der menschlichen Arbeit.

Die Utopien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind Antworten auf das von der Industriellen Revolution hervorgerufene soziale Elend.
Der Club of Rome und die globale Revolution
In den literarischen "postmateriellen" Utopien - Skinners Walden Two, Huxleys Island und Le Guins The Dispossessed beispielsweise - zeigen sich tiefgreifende Revisionen des ursprünglichen utopischen Musters.

Und ihre zukunftsfähigen Elemente haben längst die Exklusivität literarischer "Fluchtburgen" hinter sich gelassen, wie der 1991 an den "Club of Rome" und von ihm autorisierte Bericht Die globale Revolution unübersehbar zeigt.
->   Club of Rome
Wissenschaft statt "Traumwelten"
Bei dessen Autoren und Mitgliedern handelt es sich um anerkannte Wissenschaftler, Wirtschaftsexperten und Politiker.

Ihr Ziel ist nicht die Schaffung literarischer Traumwelten. Ihnen geht es vielmehr darum, die globale Betrachtungsweise einer Welt, in der die Abhängigkeit der Nationen und Staaten untereinander immer mehr wächst, mit einer Analyse der Wechselwirkungen politischer, sozialer, wissenschaftlicher, kultureller, psychischer, technischer und ökologischer Probleme zu verbinden.
Eine Welt, in der wir leben wollen
Die Verfasser des Berichts teilen mit den utopischen Schriftstellern die Überzeugung, dass die Zukunft prinzipiell offen ist. Sie fordern "eine Vision der Welt, in der wir gerne leben wollen". An einer Stelle bekennen sie sich sogar ausdrücklich zu deren "utopischer" Qualität.

Und sie setzen auf eine Ressource, die seit Morus die Bedingung der Möglichkeit der utopischen Alternative gewesen ist: Nicht zufällig verstehen sie ihren Bericht als einen "Aufruf zu weltweiter Solidarität". Der Bericht fordert eine Form von Solidarität, die das Eigeninteresse des Einzelnen nicht auslöscht, sondern von ihm ausgeht. Es gilt, den Egoismus zu einem mächtigen Verbündeten der Solidarität zu machen.

Die daraus folgenden universellen Werte brechen mit dem Homogenitätsideal der klassischen Utopietradition: Sie umfassen nicht nur Freiheit, sondern auch individuelle Menschenrechte und persönliche Verantwortlichkeit.
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Die Grenzen des Marktes
Viele klassische Utopisten glaubten, materielle Not und Ausbeutung vor allem durch eine zentralisierte Planwirtschaft beenden zu können. Demgegenüber geht der Bericht davon aus, dass auf die Effektivität des Marktes nicht verzichtet werden kann. Aber zugleich betonen seine Verfasser die Grenzen des Marktes.

Anknüpfend an Antitrust- und Antidumpinggesetze, Preisbindungsabkommen, Kontrollen im Kreditwesen sowie an einen bestimmten, von der Geschäftswelt akzeptierten Verhaltenskodex, fordern sie für die Unternehmen "klar erkennbare ethische Normen (...), wie die Gesellschaft sie verlangt, Normen, mit denen auch die Industrie leben kann, wenngleich mit Einschränkungen".
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Welches politische System?
Durch die utopische Tradition der Neuzeit zieht sich spätestens seit dem 19. Jahrhundert die Kritik an der parlamentarischen Demokratie wie ein roter Faden. An ihm scheinen die Verfasser des Berichts anzuknüpfen, wenn sie ihre Skepsis äußern, ob die repräsentative Demokratie in der Lage ist, die globalen Fehlentwicklungen wirkungsvoll zu korrigieren.

Regierungen, so lautet die Kritik, die unter dem Druck der nächsten Wahlen zu handeln hätten, konzentrieren sich auf unmittelbar anstehende Probleme. Nicht im Parlament, sondern im Radio und Fernsehen fänden im Allgemeinen die sachkundigen Diskussionen über die wichtigsten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme statt.
Dezentralisierung
Diese Kritik liefert durchaus nicht die Legitimation für die Wiederkehr eines utopischen Staates. Die Verfasser setzen vielmehr auf eine weitgehende Dezentralisierung des politischen Systems.

"In der gegenwärtig entstehenden Welt", so heißt es, kann die Entscheidungsgewalt nicht länger das Monopol von Regierungen und Ministerien sein, die obendrein noch in einem Vakuum arbeiten." Viele Partner müssten in diesen Prozess einbezogen werden: Handel und Industrie, Forschungsinstitute, Wissenschaftler, nichtstaatliche Einrichtungen und private Organisationen.

Dieser Ansatz wird durch ein fundamentaldemokratisches Korrektiv ergänzt, das sich längst als ein zentrales Merkmal des postmateriellen Utopiediskurses herausgestellt hat: Eine dynamische Welt, so der Bericht, benötige "ein empfindsames Nervensystem an der Basis, (...) um die Identifizierung aller Bürger mit dem gemeinsamen Prozess der Gouvernanz zu ermöglichen".
Die Zukunft der politischen Utopie
Der Bericht des Club of Rome strebt letztlich etwas an, was die Zukunft der politischen Utopie erst wahrscheinlich macht: im Medium der säkularisierten Vernunft und mit deren Mitteln Lösungsstrategien für eine Welt einzuklagen, die gerade heute vielfach bedroht ist - von Umweltzerstörung und Klimakatastrophen, von der Ausbeutung nichterneuerbarer Rohstoffe, von Nahrungsmittelmangel und der Dominanz irrationaler Herrschaftsstrukturen in Gestalt eines neuen Nationalismus und Fundamentalismus.

[20.12.05]
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Über den Autor
Richard Saage ist Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg. Zu seinen Publikationen zählen u.a.: "Innenansichten Utopias. Wirkungen, Entwürfe und Chancen des utopischen Denkens" (1999), "Politische Utopien der Neuzeit" (1991) und "Das Ende der politischen Utopie?" (1990).
->   Mehr über Richard Saage (Universität Halle-Wittenberg)
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->   Tomas Morus, Utopia (www.sozialistische-klassiker.org, pdf)
->   Utopische Literatur (wikipedia)
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   "Familistere": Gelebte Sozialutopie im 19. Jahrhundert (12.11.04)
->   Neue Visionen nach dem "Ende der Utopien" (13.4.04)
->   Kapitalismus oder Barbarei? (30.9.03)
 
 
 
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01.01.2010