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Der "Augenblick" im Mittelalter  
  Der Blick des Menschen auf Dinge hatte im Mittelalter eine ganz besondere Qualität. Wie die überlieferte Literatur zeigt, stellte er eine Art materielle Verbindung zwischen Subjekt und Objekt her. Die Literaturwissenschaftlerin Christina Lechtermann, Fellow am IFK in Wien, geht diesen Verbindungen in einem Gastbeitrag nach.  
Leimrutenfänge
von Christina Lechtermann

Ein ougenblic ist im mittelhochdeutschen Sprachgebrauch ein Blitz aus dem Auge - das Ausschießen des Sehpneumas oder Sehfeuers.

Wo selbst der Blick, als vornehmste und besonders verfeinerte Wahrnehmung, im ausgesendeten Sehstrahl einen Zusammenschluss mit seinem Gegenstand eingeht, weil, so Galen, die Luft in der Verbindung mit dem Sehpneuma oder Sehfeuer zum Werkzeug wird, "wie es die Nerven in unserem Körper zu jeder Zeit sind", ist Wahrnehmung körperliche Durchdringung.

Plinius oder Solinus beschreiben entsprechend, wie der Blick Krankheiten auslösen, heilen, wie er töten oder Waffen stumpf werden lassen kann und in Konrads von Megenberg Buch der Natur kann der Blick der menstruierenden Frau die plâtern auslösen.
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Christina Lechtermann hält am 19. Dezember 2005, 18.00 c. t. am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel "Leimrutenfänge".
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   IFK
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Blick verbindet Subjekt mit Objekt
Der ougenblic öffnet also im Rahmen mittelalterlicher Vorstellungen vom Sehen eine materielle (Berührungs-)Verbindung zwischen Sehendem und angeblicktem Objekt, die nicht flüchtig, ist und die im Rahmen der höfischen Etikette darum reguliert, bzw. im Notfall nachdrücklich gekappt werden muss.

Überdeutlich inszenieren diese Vorstellung die höfischen Erzählungen, von Willehalm, von Tristan, von Erec und, vermutlich am besten bekannt, von Parzival, dessen Blick von drei Blutstropfen auf weißem Schnee, die ihn unvermittelt an seine Frau erinnern, gefangen wird.
Parzival und Lancelot ...
Trotz wiederholter Angriffe auf ihn kann er den Blick, seine Gedanken und sich selbst nicht abwenden und nur die Reflex-Bewegung seines kampferprobten Kastilianers rettet ihn davor, vom Pferd gestoßen zu werden.

Erst als Gawan, der vornehmste der arthurischen Ritter, erkennt, dass die unwillkürlichen Reaktionen des Pferdes nicht genügen, um Parzivals Blick endgültig zu durchschneiden und die Tropfen mit einem Manteltuch aus gelber Seide bedeckt, ist der Bann des Blicks gebrochen.
... im Bann des Blicks
Lancelot, dem es in einem anderen Text und beim Anblick seiner Dame, der Königin Ginover ähnlich geht, bekommt schlicht eine Handvoll Dreck in den Sehschlitz seines Helms geworfen.

Erst dann tritt auch er wieder in die Handlung und in die Zeit ein und wechselt aus der Starre zurück in die Bewegung.
Auszeichnung für den, der ihm erliegt
In meinem Projekt geht es um eben diese "langen Blicke", die im Rahmen der höfischen Literatur v.a. durch den Anblick der Frau oder eines Gegenstandes, der sie vertritt, ausgelöst werden.

Dabei ist auffällig, dass, bei aller Gefahr die sie bergen, sie doch nicht grundsätzlich verurteilt werden, denn es sind gerade immer die besten Ritter und vornehmsten Liebhaber, die sich in dieser Weise dem Schauen und dem geschauten Objekt hingeben können.

D.h. der "lange Blick" ist zugleich eine Auszeichnung, die in der Logik von "des Kaisers neue Kleider", denjenigen als adelig ausweist, der ihm erliegt.
Immer genauere Details
Den Erzählungen über den langen Blick korrespondieren beschreibende Passagen, die im Verlauf des 13. Jahrhunderts immer kleinteiliger werden, und die Details, besonders des höfischen Körpers, zunehmend hervortreten lassen: schapel, fürspann, Gürtel, Leinen und Borten, körperliche Details wie Narben, die Form einer Ohrmuschel oder die Rundung einer Kehle, aber auch flüchtige Gesten, Risse in der Kleidung usw. gehören hier her.
Höfische Kultur der Sichtbarkeit
Ihre Schilderung ist häufig verbunden mit narrativen Strategien, die die Intensität des imaginären Blicks erhöhen, seine Dauer verlängern und die es gewährleisten, dass gerade die Details sich vor der Folie der typisierten Personenbeschreibung abheben können.

Mein Projekt will den langen Blick auf die kleinen Dinge in beiderlei Hinsicht - als Diskussionsgegenstand der Texte und als Imaginations-Angebot für den Rezipienten - untersuchen und fokussiert dabei auch auf die Bedeutung der Aufmerksamkeit in einer höfischen Kultur der Sichtbarkeit.

[19.12.05]
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Über die Autorin
Christina Lechtermann, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur/Ältere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin und derzeit Research Fellow am IFK, Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften.
->   Christina Lechtermann (Humboldt-Universität)
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01.01.2010