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Glaube weiter wichtig, Kirche viel weniger  
  Religiöse Überzeugungen sind in Österreich weit verbreitet - nicht nur zur Weihnachtszeit und nicht nur unter regelmäßigen Kirchgängern. Laut einer Studie von Wiener Soziologen lassen sich bloß sieben Prozent als "Atheisten" bezeichnen. Dennoch gilt die katholische Kirche nicht als besonders glaubwürdig. Besonders in sehr persönlichen Angelegenheiten wie z.B. Fragen der Sexualität wird ihr nicht vertraut.  
In Österreich spielt sich eine "Säkularisierung innerhalb der Religion" ab, schreiben die Soziologen Georg Datler, Johann Kerschbaum und Wolfgang Schulz von der Universität Wien in einem aktuellen Beitrag des Fachjournals "SWS-Rundschau".

Nur die rund 20 Prozent streng Gläubigen hängen ihnen zu Folge den Idealbildern der katholischen Kirche an - etwa im Bereich der lebenslangen Ehe. Und selbst Homosexualität sei in der großen Mehrheit der Gesellschaft akzeptiert.
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Der Artikel "Religion und Kirche in Österreich" ist in der "SWS-Rundschau" (4/05, S. 449) erschienen.
->   SWS-Rundschau
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Thesen zu Säkularisierung und Individualisierung
Zwei Hauptthesen sind es, die die Fragen zum "Wandel der Religion" dominieren. Zum einen die "Säkularisierungsthese", die davon ausgeht, dass Religion durch die Prozesse der Moderne zunehmend an Bedeutung verliert.

Die "Individualisierungsthese" hingegen meint, dass Religion lediglich seine Form ändert und quasi "privatisiert" wird - der Rückgang der Relevanz der Kirchen geht ihr zu Folge nicht mit einem allgemeinen Glaubensverlust einher.

Um beide Thesen zu überprüfen, haben sie die Soziologen mit der österreichischen Realität konfrontiert - ermittelt via repräsentativer Telefonumfrage unter über 500 Österreichern.
Sechs Typen: Von "Traditionell" bis "Atheist"
Für das Ausmaß der religiösen und kirchlichen Orientierung von Menschen entwickelten sie dabei zuerst eine neue Typologie. Die Kriterien lauteten "religiöse Selbsteinstufung", "Gebetshäufigkeit", "Häufigkeit des Kirchganges" sowie "Mitgliedschaft in der katholischen Kirche".

Daraus ergab sich eine Skala mit sechs Personengruppen. Beginnend mit jenen, die am stärksten an Religion und Kirche gebunden sind, sind dies (Prozente in Klammern):
- "Traditionelle" (20,6 Prozent),
- "moderat Gläubige" (25,4 Prozent),
- "Spirituelle" (13,7 Prozent),
- "soziale Kirchgänger" (8,0 Prozent),
- "Taufscheinchristen" (17,6 Prozent),
- "Atheisten" (7,3 Prozent).

Der fehlende Prozentsatz ließ sich keinem der sechs Typen zuordnen, Angehörige anderer Religionsgemeinschaften wurden nicht berücksichtigt.
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Gläubige sind älter und weniger gebildet
Fasst man die ersten und letzten drei Gruppen zusammen, ergeben sich die beiden großen Blöcke der "religiösen" und der "nicht-religiösen" Menschen, wobei der ersterer mit rund zwei Drittel überwiegt.

Der Anteil von jüngeren Personen bis 35 Jahren, von besser Gebildeten und in großen Städten Wohnenden ist bei den "Atheisten" und "Taufscheinchristen" signifikant höher.

Dafür sind die "Traditionellen" im Schnitt älter, weniger gebildet und wohnen in kleineren Gemeinden. Zusammen spricht das für die These, dass Säkularisierung eine Folge zunehmender Modernisierung ist.
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Selbst die Atheisten glauben an etwas
In einem nächsten Schritt haben die Forscher untersucht, wie sich die religiös-kirchlichen Typen in ihren Glaubensinhalten unterscheiden. An gar nichts zu glauben, ist dabei bei allen Personen eher unwahrscheinlich: Auch "Atheisten" (im Sinne der Praxis: Sie beten nicht und gehen nie in die Kirche) und "Taufscheinchristen" glauben tendenziell an einen "Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat".

Bei den meisten "sozialen Kirchgängern" endet die religiöse Überzeugung mit der Vorstellung, dass das "Schicksal in Gottes Hand liegt". "Spirituelle" und "moderat Gläubige" glauben an ein "Leben nach dem Tod" und erst die "Traditionellen" auch an das Jüngste Gericht.

Das Ausmaß der geglaubten religiösen Überzeugungen lässt direkt auf die religiös-kirchliche Orientierung schließen, betonen die Forscher.
Kirche inkompetent im persönlichen Bereich ...
Was halten nun die mehr oder minder Gläubigen von ihrer Kirche? Um das herauszufinden, haben Wolfgang Schulz und seine Kollegen deren "fachlichen Kompetenzen" in den Bereichen "Homosexualität", "Sexualität", "Abtreibung", "Ehe und Familie", "Menschenrechte" und "soziale Fragen" überprüft.

Obwohl sich die beiden Extremgruppen der "Atheisten" und der "Traditionellen" mitunter stark vom Rest unterscheiden, gibt es eine gruppenübergreifende Gemeinsamkeit: In den sehr persönlichen Bereichen (Sexualität, Abtreibung) wird der Kirche nur eine sehr geringe Kompetenz zugesprochen.
... aber glaubwürdig in sozialen Fragen
In Sachen "Ehe und Familie" gilt die Kirche zwar insgesamt als glaubwürdiger, hier sind aber die Differenzen zwischen den Religions-Typen am größten.

Die meiste Kompetenz wird der Kirche bei "Menschenrechten" und "sozialen Fragen" zugebilligt - und zwar auf unterschiedlichen Niveaus von den "Atheisten" bis zu den "Traditionellen".
Eheleben: Nur "Traditionelle" hängen Idealbild an
Noch eine Ebene tiefer untersuchten die Forscher die Einstellungen der verschiedenen Typen in Sachen Familie und Zusammenleben. Die Aussage "Sex vor der Ehe ist schlecht" wurde von den Studienteilnehmern sehr deutlich abgelehnt, inklusive der "Traditionellen".

Auch fanden es die meisten "in Ordnung, dass ein Paar zusammen lebt, selbst wenn es nicht zu heiraten beabsichtigt".

Hier unterschieden sich die "Traditionellen" aber bereits deutlich von allen anderen. Stärker noch wurde dieser Gegensatz bei der Frage nach der lebenslangen Ehe: Einzig die "Traditionellen" hängen hier eindeutig dem Idealbild der katholischen Kirche an.
Homosexualität akzeptiert, Homo-Ehe nicht
Schließlich fragten die Forscher die verschiedenen Religions-Typen auch noch ganz gezielt nach ihrer Ansicht zur Homosexualität. Angehörige der religiösen Gruppen fanden sie deutlich "schlimmer" als die Nicht-Religiösen.

Allerdings: Während "sexuelle Beziehungen" zwischen Erwachsenen gleichen Geschlechts bis hin zu den "moderat Gläubigen" heute kaum noch jemanden aufregt (Ausnahme auch hier die "Traditionellen"), sind Eheschließung und Adoption von Kindern durch Homosexuelle weiter verpönt.

Diese Abstufung der Haltungen findet sich - auf unterschiedlichen Niveaus - bei allen Befragten wieder, gleichgültig ob religiös oder nicht-religiös.
Säkularisierung innerhalb der Religion
Bei der Frage, ob in Österreich der Säkularisierungs- oder der Individualisierungsthese der Vorrang zu geben ist, bleiben die Studienautoren unentschieden. In ihrer Untersuchung befinden sich "Belege für beide Entwicklungen".

Sie schreiben von "großen Gruppen von Befragten, die zwar an kirchlicher Praxis teilnehmen, deren Bekenntnis jedoch ohne Folgen für ihre Glaubens- und Wertvorstellungen bleibt."

Kurz gesagt: In Österreich ist eine "Säkularisierung innerhalb der Religion" zu beobachten.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 23.12.05
->   Institut für Soziologie, Universität Wien
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01.01.2010