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Rückblick auf das Gedenkjahr 2005  
  Das Gedenkjahr 2005 ist vorüber: Gedacht wurde an Kriegsende und Niederlage der Nazis vor 60 Jahren, den Abschluss des Staatsvertrags vor 50 und den Beginn der EU-Mitgliedschaft vor zehn Jahren.  
Neben dem Online-Channel 2005.ORF.at hat auch science.ORF.at das Gedenkjahr durch zahlreiche Gastbeiträge begleitet, im Folgenden ein Überblick.
Gedenken- oder Gedanken-Los?
Selbstverständlich war das Jahr von Anfang an "heiß umfehdet": Das begann bei der Frage, wie es zu nennen sei - "Gedenk-, Gedanken- oder doch Jubiläumsjahr"? Auch einiges an den konkreten Gedenken-Gedanken erregte Unmut - etwa das Vorhaben der Macher der "25 Peaces".

Schon lange vor der aktuellen Empörung über "geschmacklose" oder "pornografische" Plakate zur EU-Präsidentschaft, sollte im Rahmen von "25 Peaces" der Opfer des Nationalsozialismus durch weiße Kreuze auf dem Wiener Heldenplatz gedacht werden.

Die Symbole wurden angesichts der rund 65.000 ermordeten jüdischen Österreicher kritisiert und schließlich ersetzt - auch die geplanten "McCare-Pakete", die via Fast-Food-Hersteller auf die Care-Pakete der Nachkriegszeit erinnern sollten, wurden nicht realisiert.
->   Die ursprünglichen Pläne von "25 Peaces" (28.1.05)
Zu viel 1955, zu wenig 1945
Die meisten Kommentare, die in den vergangenen Tagen in Zeitungen und Zeitschriften in den Rückblicken zum Gedenkjahr erschienen sind, kreisen um die Frage, ob heuer "zu viel" an 1955 und "zu wenig" an 1945 gedacht wurde. Sprich zu viel an den Beginn der "Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik" - den Staatsvertrag - und zu wenig an seine Vorgeschichte: militärische Niederlage des Nazi-Regimes, Mittäterschaft der Österreicher, Holocaust, Austrofaschismus etc.

science.ORF.at brachte dazu eine Reihe kritischer Analysen. Der Wirtschafthistoriker Michael John sprach von einer "Neo-Mythologisierung der Zeitgeschichte, wie es sie seit Jahrzehnten nicht gegeben hat".

Der Politikwissenschaftler und science.ORF.at-Host Peter Filzmaier ging zwei zentralen Punkten dabei nach: dem "Opfermythos", dem zu Folge Österreich das erste Opfer des Nationalsozialismus war, und der "Lebenslüge der Neutralität".
->   Michael John: Neo-Mythologisierung der Zeitgeschichte (18.3.05)
->   Peter Filzmaier: Geschichtsmythen Opferkult und Neutralität (2.5.05)
Staatsvertrag: Zentraler Gedächtnisort
Eine ganz wesentliche Rolle für beide spielte der Staatsvertrag, der Gedächtnisort der Zweiten Republik, der heuer auch dementsprechend gewürdigt und zelebriert wurde.

Die Narrative, die seine Darstellung seit 1955 bestimmen, so schrieb science.ORF.at-Host Heidemarie Uhl, "hatten von Beginn an auch die Funktion, die umstrittene Frage zu überschreiben, ob 1945 als Befreiung oder als Besetzung zu beurteilen" sei.

Erstaunlich fand die Historikerin "die Resistenz dieses Gedächtnisortes gegenüber der kritischen Auseinandersetzung mit den Nachkriegsmythen, die seit Mitte der 80er Jahre eine transnationale Signatur der politischen Kultur in Europa bildet".
->   Heidemarie Uhl: Staatsvertrag: Gedächtnisort der Zweiten Republik (13.5.05)
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50 Jahre Staatsvertrag
Im Mai widmete sich eine internationale Tagung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften dem 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Staatsvertrags. Der Historiker und Veranstaltungskoordinator Wolfgang Mueller folgte in einem Gastbeitrag den Strategien der Sowjetunion, der Historiker Günter Bischof jenen der USA - und stellte eine beinahe in Vergessenheit geratene Episode der Staatsvertragsverhandlungen vor, den "Kurzvertrag".
Wolfgang Mueller: 50 Jahre Staatsvertrag - Blick der Sowjetunion (6.5.05)
Günter Bischof: "Kurzvertrag" - Episode der Verhandlungen (9.5.05)
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Oral History mit Prominenten
Wenig glücklich zeigte sich der Zeithistoriker Siegfried Mattl über die Dominanz der Oral History, also den persönlichen Berichten historischer Zeitzeugen. Was anfangs als "Sprachrohr für den kleinen Mann und die kleine Frau" gedacht war, die oft in Geschichtsdarstellungen vergessen wurden, wird mittlerweile übertrieben.

Die Bevorzugung prominenter Augenzeugen habe nicht zu einer Vervielfachung der Perspektiven, sondern zu einer "Aufladung der bereits autorisierten Geschichtsbilder mit Authentizität" geführt.
->   Siegfried Mattl: Beglaubigte Geschichte (9.3.05)
Viele Publikationen - u.a. zur Roten Armee
2005 war aber nicht nur ein Jahr für Metakritik der Zeithistoriker, es wurden auch unglaublich viele neue Studien und Bücher publiziert. Exemplarisch stehen Forschungsarbeiten zum Verhältnis der Sowjetunion zu Österreich, die erstmals gemeinsam von russischen und heimischen Historikern durchgeführt worden sind.

Der russische Zeitgeschichtler Aleksandr Cubarjan schrieb in einem Gastbeitrag über "die UdSSR und Österreich in der Nachkriegszeit". Die Historikerin Barbara Stelzl-Marx widmete sich einem besonderen Tabu - den so genannten "Russenkindern", Folgen der Begegnung von Rotarmisten mit Österreicherinnen.

Sie zeichnete ein differenziertes Bild dieses schwierigen Verhältnisses und bezeichnete es als auffallend, dass die "Feindbilder der Nachkriegszeit auch vor dem Hintergrund der besonders intensiv tradierten Vergewaltigungen durch Rotarmisten teilweise immer noch fest im kollektiven Gedächtnis verankert sind".
->   Barbara Stelzl-Marx: "Russenkinder" (22.4.05)
->   Aleksandr Cubarjan: Die UdSSR und Österreich in der Nachkriegszeit (27.4.05)
Das "Russendenkmal" in Wien
Symbol für dieses schwierige Verhältnis ist bis heute das "Russendenkmal" in Wien, wie es von den Bewohnern der Stadt despektierlich genannt wurde und wird. Errichtet wurde es als Befreiungs- und Gedenkmal für die Opfer der Sowjetarmee im Kampf gegen den Nationalsozialismus.

Es "ehrt sowjetische Gefallene, feiert die Befreiung Österreichs und bescheinigt Österreichs Unschuld", schrieb der Architekturtheoretiker Jan Tabor in einem heuer erschienenen Buch.
->   Neues Buch über das "Russendenkmal" in Wien (6.5.05)
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Besonders umfassend widmete sich science.ORF.at-Host Christian Gastgeber, Byzantinist und Philologe, dem Gedenkjahr. Gleich acht Beiträge verfasste er, dabei beschäftigte er sich u.a. mit Josef Schöner, der als Chronist der letzten Kriegstage gilt, und dem Wiener Institut für Germanistik in der Zeit von 1938 bis 1945.
->   Alle Beiträge von Christian Gastgeber
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Geschichte hat ein Open End
Was also bleibt vom Gedenkjahr 2005? Schon Ende Mai wagte der Politologe Georg Spitaler einen Vergleich der Republikfeiern von 1995 und 2005. Er konstatierte einen fundamentalen Unterschied.

Während 1995 noch über die "Normalität" der österreichischen politischen Kultur diskutiert worden ist, wurde heuer zunehmend eine "Normalposition des Erinnerns" konstruiert, die die zentralen Opfergruppen des Nationalsozialismus an den Rand der Erinnerung drängt.

Eines ist in jedem Fall sicher: "Vergangenheit ist nichts Endgültiges, im Gegenteil, sie wird immer wieder neu verhandelt, neu erzählt, durch Symbole verstärkt, durch Facetten, die als Ganzes dargestellt werden, verrückt", wie es die Politikwissenschaftlerin Sieglinde Rosenberger geschrieben hat.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 30.12.05
->   Georg Spitaler: Vergleich der Republikfeiern 1995 und 2005 (27.5.05)
->   Sieglinde Rosenberger: Geschichte als Projekt mit "Open End" (15.4.05)
->   Alle Beiträge zum Gedenkjahr 2005 in science.ORF.at
->   2005.ORF.at
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Vor kurzem ist das Buch "Was bleibt. Schreiben im Gedankenjahr" von Helene Maimann im Czernin-Verlag erschienen. Es sammelt Texte von Wissenschaftlern, Journalisten, Künstlern u.a., die im Laufe des Jahres publiziert wurden.
->   Mehr über das Buch (Czernin Verlag)
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01.01.2010