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Geometrie-Verständnis auch ohne Bildung  
  Menschen haben eine Art Grundverständnis für Geometrie, selbst wenn die entsprechenden Begriffe in ihrem Wortschatz fehlen und sie keine mathematische Bildung genossen haben. Das bewiesen Geometrietests mit Stammesangehörigen im Amazonas-Regenwald, die französische Wissenschaftler gemacht haben.  
Ob die "Intuition" für Geometrie vererbt oder in frühen Kindheitsjahren erlernt ist, ist laut Stanislas Dehaene von der "Cognitive Neuroimaging Unit" und seinen Kollegen allerdings noch ungeklärt.
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Der Artikel "Core Knowledge of Geometry in an Amazonian Indigene Group" erschien in der Fachzeitschrift "Science" (Bd. 311, S. 381, 20. Jänner 2006).
->   Artikel
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Sprache und Denken - wie Henne und Ei
Die Frage, ob und wie Sprache die menschlichen Gedanken beeinflusst, beschäftigt unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen schon seit langem.

Um zu überprüfen, inwiefern mathematisches Denken ohne den sprachlichen Wortschatz funktioniert, wird gerne auf Rechentests zurückgegriffen.

Das Team um Dehaene interessierte nun die Frage, ob es für das Verständnis von Geometrie eine Art Intuition beim Menschen gibt - unabhängig von seiner Sprache und seiner Schulausbildung.
Geometrisches Verständnis im Test
Viele der Grundelemente der Euklidischen Geometrie, also der Geometrie der Ebene und des Raumes, erscheinen heute als selbstverständlich - so beispielsweise, dass zwei Punkte eine Gerade bestimmen.

Doch wie schaut es mit dem Verständnis von Geometrie bei "Ungebildeten" aus? Die französischen Forscher testeten dies bei Stammesangehörigen der Munduruku. Der isoliert lebende südamerikanische Eingeborenenstamm ist wenig bis gar nicht schulisch gebildet und benutzt weder Lineal, noch Kompass oder Karten. Die Munduruku haben auch nur wenige Worte für arithmetische, geometrische oder räumliche Begriffe.

Dehaene und sein Team führten eine Reihe von Multiple-Choice-Tests durch. Sie zeigten 14 Kindern (fünf bis zwölf Jahre alt) und 30 Erwachsenen je Fragestellung ein Set von sechs Bildern mit geometrischen Formen, bei denen das Bild identifiziert werden sollte, das als "komisch" oder "hässlich" - also als nicht passend - wahrgenommen wurde.
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Munduruku
Das indigene Volk der Munduruku lebt isoliert in Dörfern in den brasilianischen Bundesstaaten Para und Amazonas. Nach Angaben der Gesellschaft für bedrohte Völker (2004) zählt der Stamm rund 7.000 Eingeborene. Ihre Sprache ist Tupi. Das Volk lebt vor allem von der Jagd, vom Fischfang, vom Sammeln und kultivierten Pflanzenanbau.
->   Indigene Völker in Brasilien
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Von Geraden ...
 
Bild: Science

Im Test: Welche ist die "seltsame" Box?

Euklidische Geometrie im Test - sechs Bilder mit sechs Linien: Bei der Frage nach dem Bild mit einer "seltsamen" Abbildung zeigten 93 Prozent der Munduruku auf das Bild mit einer Linie, die keiner Geraden entspricht.

Weitere Tests fragten nach dem Verständnis vom Konzept der Parallellinien, rechten Winkel und der Lage von Punkten zu Geraden.
->   Das Axiomensystem des Euklid (Wikipedia)
... und Kreisen bis hin zur Karte
 
Bild: Science

Auch geometrische Figuren und Proportionen waren Gegenstand der insgesamt 45 Geometrie-Tests. 68 Prozent erkannten beispielsweise die Box, in der der Punkt nicht in der Mitte des Kreises abgebildet ist (siehe oben).

Die Aufgabe, ein verstecktes Objekt mittels Karte zu finden, wurde ebenfalls erfolgreich erledigt. Laut den Forschern stellten die Munduruku damit auch die Fähigkeit zur Übersetzung von zweidimensionaler Information in dreidimensionalen Raum, die Übersetzung vom Kartenmaßstab sowie das In-Beziehung-Setzen von Objekten und ihrer räumlichen Anordnung unter Beweis.
Gleich gut wie US-Schüler
Kinder sowie Erwachsene der Munduruku identifizierten Fehler in Bildern mit einer durchschnittlichen Erfolgsrate von 71 Prozent - große Unterschiede zwischen der Leistung der Kinder und Erwachsenen gab es dabei keine.

Zudem schnitten die Munduruku ähnlich gut ab wie 26 Kinder aus den USA, mit denen die Geometrietests ebenfalls durchgeführt wurden. Nur eine Gruppe von 28 erwachsenen US-Amerikanern hatte bessere Ergebnisse.
Grundverständnis für Geometrie
Es sei gezeigt worden, dass trotz fehlender Schulbildung und geringem "geometrischen Wortschatz" sowie isolierter Lebensweise - ohne die Verwendung von Artefakten wie Karten - eine Intuition für Geometrie existiere, so Dehaene. Unklar sei allerdings noch, ob dieses Kernwissen angeboren oder in den ersten Jahren der Kindheit entwickelt worden ist.

Wie Constance Holden in einem Begleitartikel im Fachmagazin "Science" ausführt, gibt es neben positiven Reaktionen von Wahrnehmungsforschern auf die Ergebnisse auch kritische Stimmen.

So würde beispielsweise Rosalind Arden, die kognitive Fähigkeiten bei einem Eingeborenenstamm in Paraguay getestet hat, einwenden, dass die Ergebnisse weniger mit einem Grundverständnis von Geometrie zu tun hätten, sondern vielmehr mit der Fähigkeit von logischem Denken.

[science.ORF.at, 20.1.06]
->   Cognitive Neuroimaging Unit
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01.01.2010