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Zweifel am Wundermittel Tamiflu  
  Tamiflu gilt als das wirksamste Medikament, um einer drohenden Vogelgrippe-Pandemie zu begegnen. Ein österreichischer Forscher hat sich nun die bestehenden Studien angesehen und gravierende Mängel festgestellt: Ob das Grippemittel bei einem neuen Virusstamm wirksam ist, ist derzeit unsicher. Und auch die Frage der Resistenzbildung bleibt ungeklärt.  
Zu diesem Ergebnis kommt der Allgemeinmediziner Martin Sprenger in einem Artikel für das Institut für Technikfolgenabschätzung (ITA) in Wien.
Fast alle Studien vom Hersteller (mit-)finanziert
Sprenger hat sich die für Oseltamivir (Substanzname von Tamiflu) vorliegenden Studien durchgesehen und festgestellt, dass von 17 Studien und einem Review, einer Zusammenschau mehrerer Studien, 60 Prozent direkt von Roche, dem Hersteller von Tamiflu, finanziert wurden.

An 25 Prozent der Studien war Roche indirekt beteiligt. Nur drei Studien wurden unabhängig durchgeführt.
Nur wenig kürzere Krankheitsdauer
Fakt ist, so Sprenger in seinem Artikel, dass Oseltamivir die Dauer einer echten Influenza bei ansonsten gesunden Erwachsenen und Kinder um ein bis eineinhalb Tage verkürzt.

Für chronisch kranke Menschen, die etwa an Erkrankungen mit chronischen Atemwegsbehinderungen wie Asthma oder an der Lungenkrankheit COPD leiden, ist dieser Effekt allerdings nicht gesichert. Es ist also nicht klar, ob Tamiflu auch bei diesen Menschen eine Verkürzung der Krankheitsdauer bringt.

Fakt ist weiters, dass Tamiflu die Influenzadauer bei 452 Kindern, die zweimal täglich zwei mg/kg des Medikaments erhielten, von 137 auf 101 Stunden verkürzte.
Fehlende Standards bei den Studien
In keiner der Studien, die Sprenger überblickte, wurde allerdings eine so genannte "Number needed to treat" (NNT) oder "Number needed to harm" (NNH) errechnet. Das ist insofern von Bedeutung, weil die NNT jene Anzahl von Patienten angibt, die behandelt werden müssen, damit ein Patient geheilt werden kann.

Die NNH bedeutet analog jene Anzahl von Menschen, die mit einem Medikament behandelt werden müssen, bis bei einem Patienten eine Nebenwirkung auftritt.

Je höher die NNT, desto geringer der Nutzen des Medikaments. Je niedriger die NNH, desto häufiger treten unter einem bestimmten Medikament Nebenwirkungen auf.

Derartige Zahlen gehören heute zum internationalen Standard, um die Gültigkeit und den Stellenwert einer Studie zu einem Medikament korrekt beurteilen zu können.
Alarmierende Neuberechnungen
In seinem Artikel hat Sprenger sowohl die NNT als auch die NNH für die vorliegenden Tamiflu-Studien nachträglich berechnet und kommt zu teilweise erstaunlichen Ergebnissen.

So beläuft sich etwa die NNH in der bereits zitierten Studie an 452 Kindern für die Nebenwirkung erbrechen auf 17.

Nehmen gesunde Erwachsene Tamiflu ein, müssen gar 97 Patienten damit behandelt werden, bevor einer mit dem Medikament von seiner Influenza geheilt wird.
Wirkung als Vorbeugemittel besser
Etwas positivere Zahlen zeigen sich für die vorbeugende Wirkung des Grippemittels: Eine Studie in 227 Haushalten, die Tamiflu präventiv einnahmen, ergab eine NNT von 14.

Das Risiko einer Influenzaerkrankung sank während der Behandlung von 7,4 Prozent auf 0,8 Prozent. Die NNT beträgt in dieser Studie, bei vorbeugender Einnahme, 29.
Ältere besonders gefährdet
Besonders gefährlich ist die echte Influenza bekanntlich bei älteren Patienten. Eine Studie, die in einem Altersheim an 548 Bewohnern durchgeführt wurde, zeigte eine NNT von 25.

Das erscheint wenig, allerdings waren 80 Prozent der Senioren schon vor der Studie einer Grippeimpfung unterzogen worden, sodass es während der Studie insgesamt nur zu 13 Erkrankungsfällen mit Influenza gekommen war.
Nebenwirkungen gar nicht selten
Wenig bekannt ist auch, dass Oseltamivir durchaus nicht selten zu Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Bauch- und Kopfschmerzen führt, sodass eine Einnahme des Medikaments nur bei Auftreten einer echten Influenza oder zur Vorbeugung während einer Grippeepidemie oder der vielzitierten "Pandemie", derzeit durch das "Vogelgrippe-Virus" drohend, Sinn macht.
Wird die Sterblichkeit gesenkt?
Eine Senkung der Sterblichkeitsrate an Influenza unter Tamiflu-Therapie um 90 Prozent konnte Autor Sprenger in seinem Artikel aufgrund der von ihm recherchierten Studien nicht nachvollziehen.

Möglicherweise bezieht sich diese Zahl, so Sprenger, auf eine noch unveröffentlichte amerikanische Studie.

In dieser wurden 176.000 Patienten aller Altersgruppen über einen Zeitraum von vier Wochen nach dem Ausbruch einer Influenzaerkrankung mit Tamiflu behandelt und miteinander verglichen. Allerdings liegen derzeit noch keine kritischen Beurteilungen dieser Studie vor.
Wirkung bei neuen Viren unklar
Abschließend konstatiert Allgemeinmediziner Sprenger, dass die vorliegenden Studien alle auf den Influenzavirenstämmen der vergangenen Jahre beruhen. Es ist daher durchaus nicht sicher, ob und in welchem Ausmaß Tamiflu gegen ein bislang unbekanntes Pandemievirus wirksam ist.

Auch die Frage möglicher Resistenzen ist derzeit noch offen. Nicht zuletzt wurden bisher noch keine Studien veröffentlicht, die einen eventuellen Einfluss des Grippemedikaments auf die Sterblichkeit der Erkrankten belegen können.

Sabine Fisch, Ö1 Wissenschaft, 23.1.06
->   Artikel im Original (ITA; pdf-Datei)
->   Institut für Technikfolgenabschätzung (ITA)
->   science.ORF.at-Archiv zum Thema Tamiflu
 
 
 
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01.01.2010