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DDR kein "Hort des Anti-Faschismus"  
  Der Umgang der DDR mit der NS-Vergangenheit war eines der ganz wenigen Dinge, denen selbst scharfe Kritiker des sozialistischen Regimes Respekt zollten - galt die DDR doch über Jahrzehnte hinweg als "Hort des Antifaschismus". Doch dieses Bild lässt sich im Jahr 17 nach der politischen Wende nicht länger aufrechterhalten, ergibt eine deutsche Untersuchung.  
In einer in dieser Form bisher einmaligen wissenschaftlichen Analyse hat Henry Leide, Mitarbeiter der Birthler-Behörde in Rostock, den Umgang von SED und Ministerium für Staatssicherheit (MfS) mit NS-Verbrechern recherchiert.

Als Quelle für sein Buch "NS-Verbrecher und Staatssicherheit" standen ihm unter anderen elf Kilometer NS-Akten im Berliner Stasi-Archiv zur Verfügung, von deren Existenz bis 1991 niemand etwas ahnte.
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Das Buch "NS-Verbrecher und Staatssicherheit - Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR" von Henry Leide (2. Auflage, 2006) erschien in der Reihe "Analyse und Dokumente", Band 28, Vandenhoek & Ruprecht.
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1965-1989: Nur 74 Personen verurteilt
1974/75 hatte die DDR eine Liste mit rund 800 Personen erstellt, die verbrecherischen Nazi-Organisationen angehört haben und in der DDR lebten.

Von 1965 bis 1989 sind aber nur 74 Personen verurteilt worden. "In der offiziellen antifaschistischen Fassade gibt es einen Riss bestürzenden Ausmaßes", resümiert Leide. Viele mutmaßliche Nazi-Täter, auch im Westen, wurden als inoffizielle Mitarbeiter (IM) angeheuert.

Die DDR nutzte ihre Kenntnisse im Geheimpolizeimilieu. Auf Grund ihrer Biografie waren sie erpressbar und gefügig. "Zudem vertraten sie oft die gleichen Überzeugungen wie Antiamerikanismus und Antizionismus."
Als inoffizielle Mitarbeiter für Stasi tätig
So warb die Stasi einen in Lübeck wohnenden Mann als IM an, obwohl sie wusste, dass er als Gestapo-Beamter des Mordes an polnischen Zwangsarbeitern schuldig war. Er wurde wie alle anderen "Kundschafter" finanziell unterstützt. Mit dem Geld konnte er seinen Anwalt im späteren Prozess bezahlen.

Ebenso eindeutig der Fall eines Mannes, der nach Leides Recherchen in Paris sieben Synagogen sprengte. Nach dem Krieg stand er lange Jahre im Dienst des MfS, lebte in Italien und der Bundesrepublik Deutschland und verdiente in den 60er Jahren 180.000 D-Mark.
Keine konsequente Ermittlung gegen "Blutjuristen"
Aber auch gegen so genannte Blutjuristen vom Volksgerichtshof wurde über Jahre hinweg in der DDR nicht konsequent ermittelt.

Leide berichtet in seinem Buch über 35 Fälle - beileibe nicht alle, die ihm bekannt sind. Dazu gehöre auch ein Mann, der in Auschwitz die Deportationszüge auf die Rampe rangierte und als IM angeworben wurde.
Keine konsequente Strafverfolgung in der DDR
In keinem der beiden deutschen Staaten gab es nach Leides Worten also eine konsequente Strafverfolgung von Nazi-Unrecht. Nur hat die DDR immer auf die Versäumnisse der BRD hingewiesen.

"Die DDR hat das Nachbarhaus tapeziert, das eigene aber vergessen", sagt der Autor. Doch damit nicht genug: Ebenso deprimierend ist im Rückblick der Umgang mit manchen Opfern des Nazi-Regimes.

So geriet ein Auschwitz-Überlebender ins Visier der Stasi und wurde mit allen dem berüchtigten Geheimdienst zur Verfügung stehenden Mitteln bearbeitet.
Publikation: "Unverzichtbar"
Der stellvertretende Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen in Mecklenburg-Vorpommern, Jochen Schmidt, bezeichnet Leides Buch als hervorragende, solide wissenschaftliche Arbeit.

Es sei ein Beleg für den zynischen Umgang der Stasi mit der NS-Vergangenheit. Leide belege darüber hinaus den instrumentellen Charakter des staatlichen Antifaschismus - ein NS-Täter war dann geläutert, wenn er sich der politischen Linie des SED-Staates angepasst hatte.

"Leides Buch ist für alle, die sich mit der NS-Vergangenheit und deren Bearbeitung in Deutschland beschäftigen, unverzichtbar", sagt Schmidt.

Joachim Mangler/dpa, 20.2.06
->   Stasiunterlagenbehörde
->   Jochen Schmidt
 
 
 
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01.01.2010