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Vergebung als Kategorie der politischen Aussöhnung  
  Vergebung gilt als eine menschliche Tugend, ohne die sich das Zusammenleben wohl recht schwierig gestalten würde. Alice MacLachlan, derzeit am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) zu Gast, untersucht in einem Forschungsprojekt neben den moralphilosophischen Aspekten auch Vergebung als politische Kategorie. Denn gerade in jüngster Zeit wurde diese im Rahmen politischer Aussöhnung - etwa in Südafrika und Nordirland - aktuell.  
Schwierige Vergebung

Von Alice MacLachlan

Vergebung ist ein Aspekt des (moralischen) Lebens, der schwierig und zutiefst verstörend sein kann.

Im persönlichen Kontext mag dieser Prozess des "Weitergehens" mühevoll sein. Im politischen Kontext hingegen kann er fast unmöglich erscheinen - wenn die Verletzungen, die bewältigt werden müssen, Jahrhunderte der Unterdrückung, Bürgerkrieg oder schwere Menschenrechtsverletzungen einschließen.

Und wenn das Band zwischen den Betroffenen nicht Familie oder Freundschaft ist, sondern etwa lediglich die gemeinsame Staatszugehörigkeit.
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Seminar am IWM: Mittwoch, 22.2., 14.30 Uhr
Alice MacLachlan, Doktorandin im Fach Philosophie an der Boston University, stellt ihr Forschungsprojekt am 22. Februar um 14:30 Uhr in einem "Junior-Visiting-Fellows-Seminar" unter dem Titel "Virtuous Forgiveness" zur Diskussion. Sie wird darin vor allem über die philosophischen Aspekte ihrer Arbeit sprechen.

IWM, Spittelauer Lände 3, 1090 Wien, U4 Friedensbrücke (events@iwm.at; Tel.: 01-313 58 0).
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
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Vergebung im politischen Diskurs
Was bedeutet es also, dass ein Diskurs über Vergebung Eingang in gegenwärtige politische Diskussionen gefunden hat? Kann so etwas wie politische Vergebung überhaupt existieren?

Diese Fragen haben im Hinblick auf Südafrikas berühmte "Truth and Reconciliation Commission" (TRC) eine neue Dringlichkeit erhalten: die TRC stützte sich auf ein Prinzip der Vergebung - gemäß dem Nguni-Begriff ubuntu, um das Erbe der Apartheid zu bewältigen.
->   Truth and Reconciliation Commission (TRC)
->   Informationen zur TRC (wikipedia.org)
Amnesie und "restorative Justiz" in Südafrika
Der TRC offerierte Einzeltätern politisch motivierter Menschenrechtsverletzungen Amnestie, sofern diese vortraten und ihre Verbrechen gestanden. Die Opfer der Misshandlungen wurden ebenfalls eingeladen, um die Erlebnisse aus ihrer Sicht zu schildern.

Bischoff Desmond Tutu, der Architekt des TRC und sein bekanntester Proponent, erklärte, dass diese beiderseitige Wahrheitsfindung über die vergeltende, "rückwärts gewandte" Justiz hinausgehe.
->   Beschreibung von Restorative Justice (www.toa-servicebuero.de)
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Bischoff Tutu zu den Zielen des TRC
"Wir erklären, dass es seine andere Art von Justiz gibt, die restorative Justiz, die für die traditionelle Afrikanische Rechtsprechung charakteristisch war. Dabei ist das zentrale Anliegen nicht Vergeltung oder Strafe, [sondern] die Heilung von Brüchen, das Beseitigen des gestörten Gleichgewichts, die Wiederherstellung zerstörter Beziehungen, ein Versuch, beide - Opfer und Täter - zu rehabilitieren." No Future Without Forgiveness, Seiten 54-55.
->   Promotion of National Unity and Reconciliation Act 1995
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Politische Aussöhung = Vergebung?
Tutu lehnte das so genannte "Nürnberg-Paradigma" von individuellen Gerichtsverhandlungen ab und erklärte, dass der TRC einen Mittelweg zwischen nationaler Amnesie und weiteren bürgergesellschaftlichen Konflikten gefunden habe.

Er sagte auch, dass dieses Vorgehen die Vergebung zwischen Opfern und Tätern erleichtere. Doch nicht alle Opfer, die sich der Öffentlichkeit stellten, glaubten daran.

So erklärte etwa eine Frau, deren Ehemann gefoltert und hingerichtet worden war: "Eine Kommission oder Regierung kann nicht vergeben. Nur ich könnte dies letztendlich tun. Und ich bin nicht bereit zu vergeben."
->   Kritischer Artikel zu Tutus Konzept (von David A. Crocker)
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Das Recht auf Vergebung
Ähnlich meinen viele Menschen, dass nur die Opfer das Recht auf Vergebung haben. Im Gegensatz zum juristischen Straferlass oder zur politischen Amnestie ist Vergebung demnach etwas Persönliches. Vergebung bezeichnet damit einen Sinneswandel. Wir vergeben, indem wir unsere Gefühle von Wut und Groll überwinden und versuchen, den Missetäter mit Mitgefühl und Verständnis zu betrachten. Doch diese Gefühle werden nur dem Opfer zugeschrieben - das somit alleine Vergebung erteilen könnte.
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Groll und Vergebung nach Joseph Butler
Der Anglikanische Bischoff und Philosoph Joseph Butler knüpfte im 18. Jahrhundert mit seiner Doppelpredigt "On Resentment" und "On Forgiveness" eine Verbindung zwischen Groll und Vergebung - heute ein philosophischer Standardtext.

Nach Butler besitzt der Groll moralischen Wert, denn er bestärkt uns darin, den Übeltäter zu bestrafen. Im Gegensatz dazu sei Vergebung nur dann angemessen, wenn sie den Groll mildere und nicht etwa eliminiere.
->   Die Predigt von Joseph Butler (anglicanhistory.org)
Vergebung als "politische Fähigkeit"
Andere wiederum haben argumentiert, dass es ebenso politische wie individuelle Opfer von Verbrechen gibt, und dass demgemäß politische Vergebung möglich ist.

Hanna Arendt nannte Vergebung eine "politische Fähigkeit" und legte nahe, dass die bürgergesellschaftliche Bindung von Respekt und Staatszugehörigkeit ausreichend sei, um Vergebung in der Politik zu verankern.

Nach Arendt ist Vergebung ein essentielles politisches Konzept. Unsere Freiheit als politische Handelnde ist, so argumentiert Arendt, durch die Konsequenzen unserer Handlungen eingeschränkt, die wir niemals völlig kontrollieren können - gerade in der Politik. Vergebung als Absage an die Vergeltung ist demnach ein Weg, um mit diesem Grundfaktum umzugehen.
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Mehr Details zu Hanna Arendts Ansatz
Vergebung ist für Hanna Arendt ein politisches Konzept, da sie es weniger als eine Frage des Affektes, als vielmehr des Handelns begreift. Indem wir vergeben, lehnen wir es ab, uns durch die an uns begangenen Taten bestimmen zu lassen. Wir erhalten unsere Freiheit des Handelns zurück, indem wir die Unterwerfung unter Zyklen von Rache und Vergeltung ablehnen. Vergebung verhindert die Eskalation und erhält so die Bedingungen für die Möglichkeit bürgergesellschaftlicher Politik - nach Arendt die höchstmögliche Form menschlichen Lebens. Eingeschränkt wird ihr Ansatz jedoch durch die Beschränkung auf alltägliche Missetaten, das "absolute Böse" wird hier klar ausgeschlossen.
->   The Hanna Arendt Papers (Library of Congress)
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Vergebung durch "sekundäre Opfer"
Zudem ist fraglich, ob Joseph Butler Recht hat, wenn er meint, dass wir nur über jene Missetaten grollen können, die uns selbst zugestoßen sind. Im Falle schwerer Verbrechen sind neben dem eigentlichen Opfer immer auch Familie, Freunde und Gemeinschaft betroffen.

Die Vergebung durch solche "sekundären Opfer" kann erhebliche politische Wirkung entfalten, wie beispielsweise im Fall von Gordon Wilson, dessen Tochter durch einen IRA-Bombenanschlag getötet worden war und dessen Worte die folgenden politischen Spannungen entschärften.

In diesem Fall war die Vergebung nicht Bestandteil einer politischen Institution, dennoch entfaltete sie machtvolle politische Wirkung. Darüber hinaus existieren in Irland eine Reihe von politischen Organisationen, die der Vergebung gewidmet sind.
->   Hintergrund und Gordon Wilsons Aussage (www.bbc.co.uk)
->   Glencree Centre for Reconciliation
Die politische Notwendigkeit für Vergebung
Während mehr und mehr Nationen versuchen, ihre Vermächtnisse von Krieg, Kolonialismus und Menschenrechtsverletzungen zu bewältigen, bleiben die Vergangenheit und ihr Einfluss auf aktuelle Gerechtigkeit eine dringende und schwierige Frage.

Angesichts dessen - und der Notwendigkeit, das Streben nach Gerechtigkeit mit nationaler Stabilität und Aussöhnung in Einklang zu bringen, sollte man wohl nicht vorschnell an der "politischen Vergebung" verzweifeln und sich an Hanna Arendts Worte erinnern:

"Könnten wir einander nicht vergeben, d.h. uns gegenseitig von den Folgen unserer Taten wieder entbinden, so beschränkte sich unsere Fähigkeit zu handeln gewissermaßen auf eine einzige Tat, deren Folgen uns bis an unser Lebensende im wahrsten Sinne des Wortes verfolgen würden, im Guten wie im Bösen; gerade im Handeln wären wir das Opfer unserer selbst, als seien wir
der Zauberlehrling, der das erlösende Wort: Besen, Besen, sei's gewesen, nicht findet."

[22.2.06]
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Informationen zur Autorin
Alice MacLachlan arbeitet an ihrer Dissertation, die auch das in diesem Artikel umrissene Thema behandelt. Sie studiert Philosophie an der Boston University und verbringt derzeit als Junior Visiting Fellow ein Semester am IWM in Wien.

Das Seminar, das sie am Mittwoch halten wird, zählt zur wöchentlichen Reihe der Junior-Visiting-Fellows- Seminars. Am Ende eines jeden Semesters präsentieren die Junior-Fellows zudem ihre Ergebnisse im Rahmen einer kleinen Konferenz, die Papers werden anschließend online auf der Website des IWM publiziert.
->   Die bisher erschienenen Konferenzen im Überblick (www.iwm.at)
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->   Vergebung in wikipedia.org (Englisch)
->   About Forgiveness (International Forgiveness Institute)
 
 
 
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01.01.2010