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Über Europa herrscht ein "Bildermangel"  
  Spätestens vor hundert Jahren wurde die Macht von Bildern in Politik und Gesellschaft klar erkannt. Erstaunlich ist es, so meint die Historikerin Gertraud Diendorfer in einem Gastbeitrag, dass ausgerechnet hinsichtlich "Europa" zurzeit ein regelrechtes Bilderdefizit herrscht. Die eben begonnenen "Aktionstage politischer Bildung" widmen sich u.a. diesem Aspekt europäischer Identität.  
Europa über Bilder kommunizieren
Von Gertraud Diendorfer

Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Bilder, in dem neue Techniken in der Herstellung und Verbreitung von Bildern in den Massenmedien zu einem Paradigmenwechsel, dem so genannten Iconic Turn, beigetragen haben.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Bilderflut, die uns tagtäglich im öffentlichen Raum in allen Formen der medialen Kommunikation umgibt, selbstverständlich.

Zwar meinte schon Kurt Tucholsky "ein Bild sagt mehr als 1.000 Worte", doch haben wir tatsächlich ausreichend gelernt die Bilder zu deuten und zu verstehen oder geben wir uns einfach dieser visuellen Berieselung hin?
Grundlagen der Vorstellung von Identitäten
Bilder sind nicht nur allgegenwärtig, sie sind auch wirkungsmächtig, da die großteils medial kommunizierten Bilder Welterfahrung bzw. Aneignung oder Deutung von Wirklichkeit vermitteln und so die Vorstellungen über die Handlungsmöglichkeiten (und deren Grenzen) in der sozialen Welt definieren.

Dieses kollektiv geteilte Wissen über die "soziale Wirklichkeit" bildet die Grundlage für die "imagined community" (Benedict Anderson) von Kollektiven, vor allem für die Vorstellung einer gemeinsamen (nationalen) Identität, aber auch von geschlechtsspezifisch differenzierten Identitätsmustern und ethnisch-kulturellen Zuschreibungen in einer pluralen Gesellschaft.
Europa hat ein Bilderdefizit
Im Gegensatz dazu fällt auf - und dies ist auch ein Thema in den Kulturwissenschaften, aber auch den öffentlichen Reden -, dass im Hinblick auf Europa ein Bilderdefizit herrscht.

Wenn man fragt, warum ein Demokratiedefizit vorliegt und wie man dieses beheben kann, muss man sich auch fragen, wie visuelle Vorstellungen von Europa entstehen, wie emotional diese aufgeladen sind.

Das Defizit an der Kompetenz, die kollektiven Bilder zu analysieren bzw. kritisch zu reflektieren und nach den verborgenen Machtstrukturen zu fragen, ist der demokratiepolitische Ausgangspunkt des neuen Bildatlas EUropa der im Rahmen des Projektes "Iconclash - Kollektive Bilder und Democratic Governance in Europe" entstanden ist .
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Bildatlas EUropa
Wie entstehen die visuellen Vorstellungen von Europa? In welchen Bildern wird die EU repräsentiert? Wie kommen die Bürger Europas vor? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Bildatlas EUropa des virtuellen Wissenszentrums www.demokratiezentrum.org. Er beinhaltet ausgewählte Fotografien und Abbildungen aus Bildarchiven, Printmedien, Schulbüchern und EU-Broschüren mit Bildern über Europa bzw. EU-Europa.

Der Bildatlas ist im Rahmen des Forschungsprogramms >node< (New Orientations for Democracy in Europe) des Bildungsministeriums entstanden.
->   Bildatlas EUropa
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Emotionale Ebene von Bildern
 
Bild: Audiovisual Library, European Commission 2005

Durch Bilder werden kollektive Vorstellungen geformt und es wird durch sie immer wieder neu verhandelt, was beispielsweise als EU-Europa gilt bzw. gelten soll. Bilder haben nicht nur einen informativen Charakter, sondern wirken auch auf einer emotionalen Ebene.

Daher stellen Bilder eine hervorragende Quelle für die Beschäftigung mit Europa im Unterricht dar.

Die Europaflagge (siehe oben) ist Anfang der fünfziger Jahre auf Anregung des Europarats als europäisches Emblem entwickelt worden; zur offiziellen Annahme der Flagge durch das Europäische Parlament kam es aber erst am 11.4.1983.
Barcode: Europa als Summe kultureller Identitäten
 
Bild: Rem Koolhaas, Content. Köln 2004, S. 384

Im Rahmen der Aktionstage Politische Bildung wird auf der Internetplattform des Demokratiezentrums Wien aus dem Bildatlas EUropa täglich ein Bild mit Europa-Bezug vorgestellt, mit einem ausführlichen Bildtext und Verweisen auf Hintergrundinformationen.

Beispielsweise wird ein Symbol wie die EU-Flagge und deren Entstehungsgeschichte vorgestellt, oder das von der EU-Kommission in Auftrag gegebene Logo für ein Neu-Design der europäischen Fahne, das sich auch im aktuellen Logo der österreichischen Ratspräsidentschaft wieder findet.

Zur Behebung des "ikonographischen Defizits" EU-Europas hat der niederländische Architekt Rem Koolhaas zusammen mit dem Office of Metropolitan Architecture (OMA) dafür den "Barcode" entwickelt (siehe oben). Dieser zeigt Europa als die "Summe kultureller Identitäten" durch die Aneinanderreihung der Fahnen der EU-Mitgliedsstaaten in einem Strichcode.
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Aktionstage Politische Bildung 2006
Die "Aktionstage Politische Bildung" finden 2006 zum vierten Mal statt (vom 16. April bis zum 5. Mai). Sie sind eine bundesweite Initiative mit vielen Einzelveranstaltungen und Informations- sowie Beteiligungsmöglichkeiten in Medien und im WWW. Zielsetzung ist es, Projekte, Initiativen und Ideen zur Politischen Bildung durchzuführen bzw. Schwerpunktsetzungen rund um das Thema Europa zu initiieren.
->   Mehr über die Aktionstage
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"Haus Europa" bietet Schutz
Das Haus Europa ist in der täglichen Berichterstattung und Kommunikation, in den Karikaturen, in den Schulbüchern eine wiederkehrende Chiffre in unterschiedlichen Kontexten, mit unterschiedlichen Ausformungen und Schwerpunktsetzungen.

Weder das Fundament, noch die Größe, Ausstattung oder auch die Mieter des Hauses Europas sind fixe Bezugsgrößen.

Hingegen ist in die Vision eines gemeinsamen Hauses die Schutzfunktion eingeschrieben, die Sicherheit, die ein gemeinsames Dach bietet, sowie die Mitgestaltung und Mitbestimmungsfunktion, die das gemeinsame Bauen am Haus Europa beinhaltet.
Transparenz, aber auch Kälte
 
Bild: Zeitbilder, Geschichte und Sozialkunde 8, Wien 2002, S. 28

Das Bild oben zeigt das so genannte Berlaymont-Gebäude, noch vor der Renovierung, in dem sich der Sitz der EU-Kommission in Brüssel befindet.

Die gläserne und nüchterne Fassade bietet mehrere Interpretationsflächen: Die gläserne Fassade steht für Transparenz und Einblick - moderne Symbolik für Demokratie, aber auch für Kälte und Nüchternheit.

Die Fotografie ist weder genauer verortet, noch wird beschrieben, welche Institution oder VolksvertreterInnen darin arbeiten, es dient der Illustration der Kapitelüberschrift "Das gemeinsame Haus Europa" in einem Schulbuch. Lediglich die Fahnen der Mitgliedsländer vor dem Haus stehen für die gemeinsame Vertretung der Mitgliedsländer.
Im Kalten Krieg auf Westeuropa beschränkt
Die politische Metapher des Europäischen Hauses wird bereits früh im europäischen Einigungsprozess verwendet, allerdings auf West- und Zentraleuropa beschränkt.

Diese verengte Perspektive wird durch die Einigungsbemühungen gegen Ende des Kalten Krieges aufgebrochen. "Europa ist unser gemeinsames Haus."

Mit diesem programmatischen Satz appellierte Michail Gorbatschow an die "europäische Familie", "ihren Frieden im gemeinsamen Europäischen Haus" zu finden.
Größe des Hauses weiter umstritten
 
Bild: Audiovisual Library @ European Commision 2005

Europa als Baustelle - ein häufig verwendetes Bild, das an die Errichtung eines Gebäudes denken lässt als auch Vorstellungen von Zusammenarbeit hervorruft.

Damit wurde die Debatte intensiviert und gesamteuropäisch unter Bezugnahme auf eine gemeinsame europäische Geschichte diskutiert, wer am europäischen Haus mitgestaltet und mitbaut und wer letztendlich darin wohnen soll.

Der damalige Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Hans Dietrich Genscher, replizierte auf Gorbatschow mit dem Satz: "Wir sind bereit, den Begriff eines gemeinsamen europäischen Hauses zu akzeptieren und mit der Sowjetunion zusammenzuarbeiten, um es tatsächlich zu einem gemeinsamen Haus zu machen."

Der Sozialdemokrat Willy Brandt hingegen reagierte zurückhaltend: "Die Sowjets wissen natürlich sehr wohl, dass damit die Frage aufgeworfen wird, inwieweit die Sowjetunion im Ganzen zu einem europäischen Haus gehört."

[18.4.06]
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Über die Autorin
Gertraud Diendorfer ist Historikerin und geschäftsführende Leiterin des Demokratiezentrums Wien.
->   Demokratiezentrum
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->   >node< research
 
 
 
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01.01.2010