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Stephen Hawkings "Flexiversum"  
  Stephen Hawking, der Popstar der Kosmologie, hat mit einem Fachkollegen die Geschichte des Universums neu geschrieben - und es bleibt dabei kein Stein auf dem anderen: Nach Ansicht der beiden Physiker müssen wir uns von dem Gedanken verabschieden, dass es dereinst einen Anfang aller Dinge gegeben hat.  
Hawkings Alternative ist, wie der "New Scientist" kommentiert, ein "Flexiversum" - ein von Quanteneffekten durchsetztes Universum, in dem der Beobachter die Geschichte bestimmt und selbst die Wirkung ihrer eigenen Ursache nicht mehr sicher ist.
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Fachartikel und populäre Vorträge von Stephen Hawking sind auf dem Preprintserver arXiv.org frei zugänglich. Einen aktuellen Überblick über die Hawkingsche Kosmologie kann man auch in der Zeitschrift "New Scientist" nachlesen (Ausgabe vom 22.4.06, S.28-32).
->   New Scientist
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Eine ganz kurze Geschichte des Universums
Die übliche Geschichte des Universums lautet in der kürzest möglichen Fassung etwa folgendermaßen: Vor rund 13 Milliarden Jahren befand sich der Kosmos aus einem Zustand extrem hoher Temperatur und Dichte.

Zu diesem Zeitpunkt waren die vier physikalischen Grundkräfte - starke und schwache Kernkraft, Elektromagnetismus und Gravitation - noch in einer Urkraft vereinigt, wobei der Begriff "Zeitpunkt" für diesen Zustand eigentlich gar nicht verwendet werden dürfte. Denn genau genommen darf man erst 10-43 Sekunden nach dem Urknall von "Zeit" sprechen, sofern man die Allgemeine Relativitätstheorie als Beschreibungsrahmen wählt.

Nach allgemeiner Übereinkunft der Kosmologen durchlief das Universum zunächst eine äußerst heiße Frühphase, die mit einer explosionsartigen Ausdehnung des Raumes einherging. Danach entstanden die Bausteine der Materie: Als erstes Quarks und Antiquarks, später Protonen und Neutronen, die nach einer weiteren Abkühlung die ersten Atomkerne bildeten.

Rund 400.000 Jahre nach dem Urknall bildeten sich stabile Atome, die Materie geriet verstärkt unter den Einfluss der Gravitation, Galaxien entstanden - der Rest, weil bekannt, in Stichworten: Sonne, Erde, Leben, Homo sapiens.
Von A nach B?
Soweit liest sich die Geschichte des Universums wie eine Zugreise. Man steigt an der Station A - dem Urknall - ein, legt ein gewisses Wegstück zurück und steigt am Zielbahnhof B wieder aus: Voilà, willkommen in der Gegenwart. Nach Ansicht von Stephen Hawking ist diese Sicht der Dinge grundfalsch. Seiner Ansicht nach gibt es zwar den Zielbahnhof - die Gegenwart -, aber die Station A sieht ganz anders aus, als dieses Bild nahe legt. Im engeren Wortsinn gibt es sie gar nicht.
Singularitäten als Startpunkt
Ausgangspunkt der Hawkingschen Argumentation ist eine Arbeit, die er bereits in den 1970ern mit dem britischen Mathematiker Roger Penrose veröffentlichte. Damals zeigten die beiden, dass das Universum aus einer so genannten Singularität hervorgegangen sein muss - einem unendlich gekrümmten Zustand der Raumzeit, in dem die Gesetze der Allgemeinen Relativitätstheorie keine Gültigkeit mehr haben.

Dafür kommen an dieser Stelle die wundersamen Effekte der Quantenwelt ins Spiel: Aus dieser Sicht ist der Beginn des Universums letztlich nichts anderes als ein Quanteneffekt - wenn auch mit gigantischen Konsequenzen.
->   Singularität - Wikipedia
Auf verschlungenen Pfaden
Im Jahr 1983 zog Hawking gemeinsam mit seinem Kollegen James Hartle von der University of California aus dieser Erkenntnis die Konsequenzen und wandte eine Rechenmethode auf das Universum an, die der US-Physiker Richard Feynman ursprünglich für Quantensysteme entwickelt hatte.

Mit dieser Methode kann man etwa berechnen, was passiert, wenn ein Lichtquant eine Glühbirne verlässt und auf das Auge des Betrachters trifft. Dabei wird nicht nur der tatsächliche direkte Weg zwischen Glühbirne und Auge berücksichtigt, sondern alle möglichen. Im Prinzip auch jene, bei denen das Lichtteilchen etwa einen Umweg über den Mars oder den Sirius macht.

Der Clou an der Feynmanschen Methode ist der, dass sich in der klassischen Welt so gut wie alle möglichen Pfade auslöschen und genau den Weg übriglassen, den wir auch beobachten können. Diese Interpretation der Quantentheorie wird auch "sum over history" genannt, weil bei ihre mögliche Pfade rechnerisch gewichtet werden.
Mögliche Welten
Was bedeutet das nun für die Geschichte des Universums? Nach Hawking und Hartle müssen alle Geschichten berücksichtigt werden, die prinzipiell möglich sind. Eine mögliche Welt wären etwa jene, in der trotz gleicher Naturgesetze unser Sonnensystem gar nicht entstand, eine zweite, bei der nicht Italien, sondern Brasilien die Fußball-WM 1982 gewann, und eine dritte, bei der der aktuelle Roman von Frederic Beigbeder wirklich gut gelungen ist.

Freilich geht es in Hawkings und Hartles Berechnungen nicht um Fußball und Romane, ja nicht einmal um Sonnensysteme, aber das Prinzip ist klar: Ihrem Konzept zufolge besteht die Vergangenheit aus einem diffusen Möglichkeitsraum, in dem das Universum alle erdenklichen Geschichten durchlebt hat - genau so, wie auch ein Lichtteilchen nach Feynman gleichzeitig verschiedene Wege beschreiten kann.
Kein Anfang aller Dinge
Damit fällt allerdings die klassische Vorstellung vom Urknall als einem streng abgegrenzten Beginn von Raum und Zeit. Nach dem von Hawking und Hartle entwickelten so genannten "no boundary"-Vorschlag gibt es nämlich keinen definitiven Startpunkt in der Geschichte des Universums, dessen Beginn, so der mathematische Begriff, ist vielmehr "randlos".

Ähnlich, wie etwa die Oberfläche einer Kugel zwar begrenzt ist, aber keinen ausgezeichneten Ursprung aufweist.
Kein Probleme mit der Feinabstimmung
Hawking hat kürzlich weitere Konsequenzen dieses Ansatzes mit seinem Fachkollegen Thomas Hertog vom Kernforschungszentrum CERN durchgerechnet. Ein Vorteil daran ist, dass man damit ein Problem vermeidet, an dem die traditionelle Kosmologie leidet: die so genannte Feinabstimmung der Naturkonstanten.

Letztere muss gewissermaßen vorne in die gängigen Modelle hineingesteckt werden, damit hinten genau jenes Universum rauskommt, das wir beobachten können. Das wirkt willkürlich und ist für Physiker daher nicht befriedigend.

"Die üblichen Ansätze haben Schwierigkeiten zu erklären, wodurch die Phase der kosmischen Expansion einsetzte", erklärte Hawking kürzlich gegenüber dem "New Scientist": "Aber sie entsteht auf natürliche Weise mit der 'no boundary'-Bedingung. Diese benötigt keine Feinabstimmung."
->   Feinabstimmung - Wikipedia
Bizarre Konsequenzen
Allerdings erkauft man diesen Vorteil durch eine Reihe anderer gewöhnungsbedürftiger Effekte. So wird etwa der störende Beobachter, den man aus der Quantentheorie kennt, nun in die Welt des Großen hineingetragen.

Die Geschichte des Universums besteht nun nicht mehr objektiv, sondern entsteht gewissermaßen erst durch unsere Betrachtung. Selbst das altehrwürdige Verhältnis von Ursache und Wirkung, die Kausalität, ist nach Hawking von Standpunkt des Beobachters abhängig. Könnte man von außen auf das Universum blicken (was natürlich nicht geht), so würde sich die Kausalität umkehren und von der Wirkung zu ihrer Ursache laufen, so der britische Physiker.

Das ist freilich starker Physik-Tobak, der bei Fachkollegen nicht nur Zustimmung auslöst. Paul Steinhardt von der Princeton University ist vorsichtig skeptisch und meint, dass man zunächst die gängigen Kosmologien ausreizen sollte, bevor man derlei kuriose Ansätze verfolgt. Wesentlich direkter äußert sich sein Fachkollege Andrei Linde von der Stanford University: "I don`t buy it."

[science.ORF.at, 20.4.06]
->   Website von Stephen Hawking
->   Stephen Hawking - Wikipedia
 
 
 
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01.01.2010