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Gehirn-Studie: Warten ist schlimmer als der Schmerz  
  Die Wartezeit beim Arzt vor dem schmerzhaften Eingriff ist eine qualvolle Angelegenheit; die Angst sitzt vielen sprichwörtlich im Nacken. Am liebsten würden wir es sofort hinter uns bringen, denn diese "Angst" vor der unerfreulichen Erfahrung wird häufig als weit schlimmer empfunden als der Eingriff selbst.  
Zumindest reagierte die Mehrzahl von Probanden im Versuch von Neurowissenschaftlern mit Elektroschocks so, dass sie sich den "schmerzenden" Stromschlägen schneller aussetzen wollten - auch wenn dabei die Intensität zunahm.

Das Elend einer langen Wartezeit hat jedoch neurobiologisch nichts mit dem wahren Gefühl der Angst zu tun, sondern wird anatomisch an einer anderen Stelle im Gehirn gebildet - in einem Bereich der so genannten Schmerzmatrix, erkannten Gregory S. Berns und Kollegen der Emory University School of Medicine in Atlanta.
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Der Artikel "Neurobiological Substrates of Dread" ist in der Fachzeitschrift "Science" (Bd. 312, S. 754, 5. Mai 2006) erschienen.
->   Abstract
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Unerfreuliches schnell überstehen
Dass Menschen die schönen Dinge immer möglichst schnell genießen wollen, die Unerfreulichen aber möglichst lange hinauszögern, stimmt nicht immer.

Im Gegenteil: Viele Untersuchungen über die Entscheidungsfindung sprechen dafür, dass es bevorzugt wird, die Belohnung möglichst lange "aufzusparen". Unerfreuliche Dinge will man hingegen lieber schnell hinter sich bringen.
Die unerträgliche Angst vor dem Warten
Den Grund dafür sehen Berns und sein Team in den subjektiv wahrgenommenen Vorteilen oder - bei negativen Ereignissen - hohen "Kosten", die das Warten bringt.

Das Warten auf den Geburtstag ist erfreulich - getreu dem Motto: Vorfreude ist die schönste Freude. Das Warten auf einen anstehenden Zahnarzttermin ist hingegen ein Elend.

Im Fall des unerfreulichen Ereignisses kann das Problem des Wartens auf eine Art Angst oder unangenehme Gefühle reduziert werden, die damit verbunden werden, schreiben die Forscher.
Wie wird Entscheidung beeinflusst?
Wie sich diese "Angst" vor einer unerfreulichen Erfahrung auf die Entscheidung des Menschen auswirkt, untersuchten die Neurowissenschaftler.

Dass viele Menschen Unerfreuliches schnell hinter sich bringen wollten, wäre ein Umstand, der "von ökonomischen Modellen der Entscheidungsfindung bisher nicht berücksichtigt wird", sagt Berns.
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Neuroökonomie
Die Neuroökonomie ist ein junges interdisziplinäres Forschungsfeld, bei dem Neuro- und Wirtschaftswissenschaftler zusammenarbeiten. Neurobiologische Erkenntnisse sollen dabei das Verständnis fördern, warum Menschen welche wirtschaftlichen Entscheidungen treffen.
->   Neuroökonomie: Wie Menschen entscheiden (18.10.04)
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Dem neurobiologischen Link auf der Spur
Die Wissenschaftler sahen sich nun genau an, wie die Angst vor dem unerfreulichen Ereignis im Gehirn neurobiologisch "verlinkt" ist.

Mit Hilfe von Magnetresonanztomografie (fMRI) zeichneten die Forscher die Gehirnaktivität auf, als die einzelnen Probanden eine Serie von "leichten" Elektroschocks an den Füßen erhielten.

Die Stromschläge erfolgten mit unterschiedlicher Intensität, und zwischen den einzelnen Schocks gab es unterschiedlich lange Pausen.
Über Länge der Wartezeit entschieden
Erinnert die Versuchssituation an die 1950er Jahre, so wurden bei den Teilnehmer zumindest individuelle maximale "Schmerzgrenzen" ermittelt. Vor jedem der insgesamt 96 Elektroschocks teilten die Wissenschaftler den Probanden mit, wie stark der Stromschlag werden würde und wie lange er darauf warten müsste.

Dann bekamen die Teilnehmer die Möglichkeit zu entscheiden, ob sie einen stärkeren Stromschlag mit kürzerer Wartezeit oder einen schwächeren Elektroschock mit längerer Wartezeit bevorzugen würden.
Je schneller, desto besser
Der Grad, mit dem sich die einzelnen Teilnehmer für eine höhere und schnellere Ladung entschieden, war für die Neurowissenschaftler ein Anzeichen für die Angst oder das ungute Gefühl, das sie beim Warten empfanden.

Die meisten der Teilnehmer bevorzugten: je schneller, desto besser. Doch immerhin 28 Prozent hatten so viel Angst, dass sie sogar viel mehr Schmerz in Kauf nahmen, nur um das Warten zu verkürzen.
Angst ist nicht gleich Angst
Die Aufnahmen der Gehirnaktivität belegen: Während des Wartens war das Gehirn in der Schmerzmatrix aktiv - und zwar in den Bereichen, die mit der Aufmerksamkeit verknüpft sind.

Die Schmerzmatrix bezeichnet dabei das Netzwerk von Schmerz verarbeitenden Regionen im Gehirn.

Daher schließen die Forscher darauf, dass diese Angst, die das Warten zum Elend werden lässt, "nicht so einfach gebildet wird wie die Angst oder Furcht, die eine Emotion darstellt und von anderen Gehirnregionen kontrolliert wird".
->   Schmerz bei Wikipedia
Es kommt auf die Aufmerksamkeit an
Die extrem "Ängstlichen" zeigten nicht nur mehr Aktivität im Aufmerksamkeitsbereich des Gehirns, sondern die Aktivität wurde im Vergleich zu den weniger Ängstlichen auch viel früher wahrgenommen.

Fazit der Wissenschaftler: Der anatomische Entstehungsort der "Warte-Angst" rührt von der Aufmerksamkeit her, die einer erwarteten physikalischen Reaktion geschenkt wird.

So hätten die extrem Ängstlichen im Experiment mehr Aufmerksamkeit auf die Füße gelenkt, die mit dem Elektroschock behandelt werden sollten.
Aufmerksamkeit umlenken
Wer sich also die lange Wartezeit nicht ersparen kann, der sollte sich ablenken - vor der unangenehmen Zahnbehandlung beispielsweise mit Meditation oder dem Lesen einer Zeitschrift.

Das sollte klappen, meinen die Forscher. Und: "Wenn das zu rationalerem Handeln führt, so etwa bei der Gesundheitsvorsorge, wäre das ein substanzieller Gewinn" - wahrscheinlich nicht nur für den Einzelnen.

Lena Yadlapalli, science.ORF.at, 5.5.06
->   Emory University Department of Psychiatry and Behavioral Sciences
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01.01.2010