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Wien um 1900: Literaten "entdecken" Bilder  
  Um 1900 erhielt die Macht der Bilder Einzug in die Gesellschaft. Der Aufschwung der optischen Medien wie etwa Film und Fotografie faszinierten einige große Literaten der Zeit - stand es doch für sie schon länger in Frage, ob sich Realität nur mit Sprache abbilden lässt. In welcher Form sich Wiener Autoren wie etwa Hugo von Hofmannsthal und Peter Altenberg der neuen Medien bedienten und damit Grenzgänge zwischen Bild und Sprache unternahmen, schildert die Germanistin Alys George, derzeit Junior Fellow am IFK in Wien, anlässlich eines Vortrages.  
Feder, Foto und Film: Der Wiener Poet geht ins Kino
Bild: IFK
von Alys George

Als der allererste Film, stumm, 1896 in Wien gezeigt wurde, war der 22-Jährige Hugo von Hofmannsthal bereits ein Superstar der österreichischen Literaturszene.

In seinen späten Lebensjahren kamen die ersten Tonfilme auf den Markt (ab 1928) und lösten den Stummfilm ab. Damit umspannen die frühen technologischen Fortschritte des neuen Mediums Film Hofmannsthals fruchtbarste Schaffensperiode.
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Vortrag am IFK
Alys George hält am 15. Mai 2006, 18.00 c.t., am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen öffentlichen Vortrag mit dem Titel "Feder, Foto, Film: Wien um 1900 als Experimentierfeld der Künste".
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über die Veranstaltung (IFK)
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Zwischen Stummfilm und Tonfilm
In den grob dreißig Jahren zwischen Stummfilm und Tonfilm schuf Hofmannsthal unzählige Gedichte, Dramen, Essays, Erzählungen und Opernlibretti.

Weniger bekannt ist, dass er auch vier Filmentwürfe schrieb. Zwei blieben Skizzen, zwei wurden von berühmten Regisseuren verfilmt: Das fremde Mädchen (1913) von Mauritz Stiller, Greta Garbos Mentor, und Der Rosenkavalier (1925) von Robert Wiene, dem Regisseur des Stummfilm-Meisterwerks Das Cabinett des Dr. Caligari.

Hofmannsthal gilt als einer der wichtigsten Literaten seiner Zeit und wird noch heute als Verfechter der europäischen Geisteskultur schlechthin betrachtet. Warum aber beschäftigte sich ein so gewandter Autor wie Hofmannsthal jahrzehntelang mit dem Unterhaltungsmedium Film?
Bilder: Tausend Wörter wert?
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert keimten Ansätze einer neuen, stark visuell geprägten Kultur auf. Kino-Paläste, illustrierte Zeitungen und eine freie Körperkultur um den modernen Ausdruckstanz weckten die Schaulust der Massen.

Als die Massenkultur sich zunehmend den optischen Medien zuwandte, wurde die Macht der Sprache immer mehr in Frage gestellt. Nietzsches Behauptung, "dass es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten Ausdruck ankommt", fand umfassende Zustimmung. Philosophen, Soziologen und schließlich auch viele Autoren setzten sich mit der Sprache kritisch auseinander.

Wie lässt sich Erfahrung kommunizieren, wenn nicht in tradierter Sprache und literarischen Formen? Zwischen Sprache und Realität öffnete sich eine unüberbrückbare Kluft. Plötzlich schienen die Wörter nicht mehr in der Lage, die Geschwindigkeit und die Reizüberflutung des modernen Großstadtlebens unmittelbar darzustellen. Ein Bruch mit der traditionellen literarischen Ästhetik war die Folge.
Faszination für nonverbale Medien
Hofmannsthal behauptete, dass aus der Sprachskepsis "eine verzweifelte Liebe zu allen Künsten erwacht [sei], die schweigend ausgeübt werden." So dienten Pantomime und Tanz als nonverbaler Ausweg aus dieser Krise der Worte.

Hofmannsthal schrieb erstmals theoretische Texte und Zeitungskritiken über diese Gattungen, später auch Entwürfe, die von einigen der größten Künstler seiner Zeit auf die Bühne gebracht wurden.
Körpersprache
Die nur visuell wahrnehmbaren Werke dienten als Alternativen zur Sprache, wenn nicht gar als Sprachersatz.

Denn für Hofmannsthal bot der Körper - die Geste und Mimik des Schauspielers - ein direkteres, ausdrucksvolleres Potential als Worte. Im Stummfilm, einer Mischung aus Bild und Gebärde, sah er die Möglichkeit, ein breiteres Publikum zu erreichen, es zu belehren und die Literatur wiederzubeleben.

Andere Wiener Autoren waren von nonverbalen Medien ähnlich fasziniert. Im Versuch, der Sprache eine neue Dynamik zu verleihen, begannen Hofmannsthal und einige seiner bildbegeisterten literarischen Zeitgenossen zu experimentieren.
Fotografisches Schreiben
Bild: Altenberg
"Frau Risa Horn": Bild aus der Sammlung von Peter Altenberg
Auch Peter Altenberg verknüpfte Text und Bild. Er war zugleich Schriftsteller und - wie viele seiner Zeit - eifriger Sammler von Fotografien und Postkarten.

Altenberg begnügte sich aber nicht mit einer kunstvollen Anordnung der Bilder in Alben, sondern schrieb häufig poetische Fragmente auf die Bildseite der Fotografien.

Altenbergs Beschäftigung mit Bildern schlug sich auch in seinem literarischen Schaffen nieder: Manche seiner Texte gleichen Schnappschüssen, und seine Bücher, z. B. Wie ich es sehe (1896), haben oft die Struktur von Fotoalben. Altenbergs literarische "Momentaufnahmen" traten aus einer neuartigen Wahrnehmung hervor: Sie entstanden aus dem Zusammenspiel von Bild und Schrift.
"Malerisches" Theater
Oskar Kokoschka, vor allem als Maler bekannt, benützte sein Talent zum Visuellen auch in der Literatur: Er schrieb Theaterstücke, die für heftige Kontroversen sorgten.

In Mörder Hoffnung der Frauen (1907) u. a. ersetzen gemäldeähnliche Szenarien den dramatischen Dialog. Zentral sind dabei die Inszenierungen der Stücke, da sie Deutungsmuster der Malerei anwenden.

Anstelle der Sprache setzte Kokoschka archetypische Figuren und einen starken Farb- und Lichtsymbolismus ein, um Bedeutung zu vermitteln. So funktioniert das Drama eher als Gemälde und nicht als Theaterstück im traditionellen Sinne.
Wechselspiel der Künste
Die Wiener Autoren der Jahrhundertwende erhofften die scheinbar verloren gegangene Unmittelbarkeit der Sprache wiederzugewinnen. Ihr Weg führte zu medialen Grenzüberschreitungen, die der tradierten Trennung von Text und Bild widersprachen.

Mit ihren Experimenten bereiteten sie den Boden für die Avantgarde und die Postmoderne.

[12.5.06]
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Über die Autorin
Alys George, M. A., ist Ph. D.-Candidate am Department of German Studies an der Stanford University. Sie studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Internationale Beziehungen in Stanford, Wien, Berlin und Delaware. 2004 erhielt sie Stanfords "Centennial Teaching Award". 2005/2006 ist sie Fulbright/IFK_Junior Fellow mit dem Projekt "Toward a Language of Images: Literature and Visual Culture in fin-de-siècle Vienna".

Mit der Vergabe von Junior Fellowships fördert das IFK Dissertanten (bis zum 35. Lebensjahr) mit kulturwissenschaftlichen Projekten. IFK_Junior Fellowships werden für ein Jahr vergeben, beinhalten ein monatliches Stipendium und einen Arbeitsplatz am Institut, der den Austausch mit den Senior und Research Fellows des Instituts befördert. Junior Fellowships werden vorzugsweise an österreichische Studierende vergeben. Die nächste Ausschreibung ist im Oktober 2006.
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01.01.2010