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Gugging: Schauplatz medizinischer Massenverbrechen  
  Der Historiker Herwig Czech untersucht in seiner Dissertation die Rolle der Wiener Medizin im Nationalsozialismus. Dabei geht es auch um bisher vernachlässigte Aspekte wie die Medizinverbrechen in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Gugging, die die geplante Elite-Universität beherbergen soll. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Thema blieb bisher aus, meint Czech, der derzeit als Junior Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) zu Gast ist, in einem Gastbeitrag.  
Hunderte fielen der NS-Euthanasie zum Opfer
von Herwig Czech

Die von den Nationalsozialisten beschönigend als "Euthanasie" bezeichneten Mordaktionen kosteten während des Zweiten Weltkrieges rund 200.000 Menschen das Leben und gelten heute als direkte Vorstufe zur Shoah. Praktisch jede Institution zur Versorgung von psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen war auf die eine oder andere Weise darin verwickelt.

Die Geschehnisse in Gugging waren jedoch selbst nach den Maßstäben des Dritten Reiches von seltener Grausamkeit. Sie sind untrennbar verknüpft mit dem Namen Emil Gelny, der Hunderte von Patientinnen und Patienten ermordete, wobei er zum Teil einen selbst entwickelten elektrischen Tötungsapparat verwendete. In der Anstalt zirkulierte dafür der zynische Ausdruck "Neger machen", der auf den Zustand der Leichen anspielte.

Wie andere prominente "Euthanasie"-Täter konnte sich Gelny nach dem Krieg der gerichtlichen Verfolgung entziehen.
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Seminar am IWM: Mittwoch, 17. Mai, 10.30 Uhr
Herwig Czech, Doktorand im Fach Geschichte an der Universität Wien, stellt sein IWM-Forschungsprojekt am 17. Mai um 10.30 Uhr in einem "Junior-Visiting-Fellows-Seminar" unter dem Titel "Cleansing the National Body. Public Health, Welfare and 'Racial Hygiene' in WWII Vienna" zur Diskussion.

Interessierte sind herzlich eingeladen - um Anmeldung wird gebeten: IWM, Spittelauer Lände 3, 1090 Wien (assmann@iwm.at; Tel.: 01-313 58 0).
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
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"Aktion T4": Deportationen nach Hartheim

Das Schloss Hartheim bei Linz war das eigentliche Zentrum der Euthanasieverbrechen in Österreich. Bis zu 30.000 Menschen starben dort in der Gaskammer. Auch aus der Heil- und Pflegeanstalt Gugging wurden 1940/41 regelmäßig Transporte mit unheilbaren und pflegeaufwändigen PatientInnen zusammengestellt und nach Hartheim in den Tod geschickt.

Organisiert wurden die Tötungen von einer Geheimorganisation mit Sitz in der Berliner Tiergartenstraße 4. Von dieser Adresse leitet sich die Bezeichnung "Aktion T4" ab, in deren Rahmen ca. 70.000 Menschen ermordet wurden. Die Zahl der "T4"-Opfer aus Gugging konnte nie genau festgestellt werden. Sie lag bei mindestens 425, könnte aber auch wesentlich höher gewesen sein.

Rechts im Bild: Die Vernichtungsanstalt Hartheim mit rauchendem Schornstein. Dieses Foto wurde 1940 heimlich von Karl Schumann aufgenommen (Foto: DÖW).
->   Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim
->   Informationen zum NS-Euthanasieprogramm (Deutsches Historisches Museum)
"Kindereuthanasie": Selektionen für den Spiegelgrund
Auch Kinder und Jugendliche wurden nach Hartheim ins Gas geschickt. Viele von ihnen gelangten aber auch in die Wiener Kindereuthanasieanstalt Am Spiegelgrund, wo der Begutachtungs- und Tötungsprozess nach wissenschaftlichen Kriterien organisiert war.

Die Gehirne der Opfer wurden systematisch gesammelt und dienten noch Jahrzehnte nach dem Krieg der Forschung.
->   Ausstellung: Der Krieg gegen die "Minderwertigen"
Tötungen in der Anstalt

Ein modifizierter Elektroschockapparat diente als Mordinstrument.
Nachdem Hitler Ende August 1941 die "Aktion T4" abbrechen ließ, verlegten die Euthanasieplaner das Töten in einzelne Anstalten ("dezentrale Euthanasie"). In Niederösterreich - in den Anstalten Gugging und Mauer-Öhling - tat sich dabei Emil Gelny, ursprünglich praktischer Arzt aus Klosterneuburg, besonders hervor. Dank seiner hervorragenden Beziehungen innerhalb der NS-Bewegung gelang es dem fanatischen Nationalsozialisten und "Illegalen", nach einem kurzen Praktikum an der Wiener Universitätsnervenklinik in beiden Anstalten die Kontrolle zu übernehmen.

In relativ kurzer Zeit ermordete er mit Hilfe von Gift bzw. einem für diesen Zweck adaptierten Elektroschockapparat Hunderte PatientInnen. In einem Brief an den Gauhauptmann von Niederdonau brüstete er sich damit, dass in Gugging durch seine Tätigkeit "die Eliminierung von mehr als 400 unheilbaren, den Staat in der jetzigen Situation schwer belastenden Kranken" erfolgt sei.

Gelny war zwar die treibende Kraft hinter den Morden, doch er war kein Einzeltäter. Sein Tun wurde von Vorgesetzten gedeckt, Anstaltspersonal leistete Beihilfe.

Zwischen dem 11. und 13. März 1944 wurde die Anstalt bis auf 395 "Arbeitspfleglinge" geräumt, um für ein Hilfskrankenhaus für die Wiener Bevölkerung Platz zu schaffen. Zwei Transporte mit insgesamt 100 Frauen waren bereits Ende Februar in die Vernichtungsanstalt Meseritz-Obrawalde in Pommern gegangen. Im Zuge der Räumung von Gugging wurden 361 PatientInnen, darunter 211 Kinder, in Anstalten des Reichsgaues Wien verlegt. Der Großteil dieser Menschen kam in die Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof, wo die meisten der "dezentralen Euthanasie" zum Opfer gefallen sein dürften.
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Sommer 1944: Gelny tötet vor Fachkollegen
Im Sommer 1944 versammeln sich zahlreiche Psychiater in Gugging zu einem Kongress - Fragen der "Euthanasie" stehen auf der Tagesordnung. Gelny tötet vor versammelter Kollegenschaft einen Patienten, um die Effizienz seiner Elektroschockmethode zu demonstrieren.
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Prozess ohne den Haupttäter
Nach Kriegsende standen Bedienstete der Anstalt und Gelnys Vorgesetzte vor Gericht. Gelny selbst befand sich nicht darunter - er konnte nach Syrien flüchten, später in den Irak, wo er wieder als Arzt tätig wurde. 1961 erklärten die österreichischen Behörden ihn für tot.

Von seinen Mittätern wurden nur einige PflegerInnen und die Verantwortlichen in der Gauverwaltung verurteilt. Spätestens im Jahr 1951 waren alle wieder frei. Wenig später arbeiteten Euthanasietäter wie Hans Bertha (Graz) und Heinrich Gross wieder eifrig an ihren Karrieren.
Die Gegenwart der Vergangenheit: Stigma oder Chance?
Was bedeutet die NS-Vergangenheit des geplanten Standortes für die neue Elite-Uni? Wurde diese "bewältigt", so dass der Standort - gleichsam frei von toxischen Altlasten - bereit ist für eine Neuverwendung, unbeschrieben wie ein weißes Blatt Papier?

Oder hätte nicht gerade eine international wahrgenommene Forschungsinstitution die Verpflichtung, auch auf die destruktiven Potenziale der Wissenschaft zu reflektieren, die in Gugging so katastrophale Folgen zeitigten?

Derzeit zeichnet sich eher eine Neuauflage der jahrzehntelang eingeübten Verdrängungsstrategien im Umgang mit der NS-Vergangenheit ab. In Anbetracht des internationalen Rahmens, in dem die geplante Forschungseinrichtung agieren wird, könnte sich die Hoffnung auf eine stillschweigende Entsorgung der Vergangenheit jedoch als trügerisch erweisen.

[15.5.06]
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Informationen zum Autor
Herwig Czech arbeitet an seiner Dissertation, die unter anderem auch das in diesem Artikel umrissene Thema umfasst. Derzeit verbringt der DOC-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) als Junior Visiting Fellow ein Semester am IWM in Wien.

Literatur: Gemeindenahe Psychiatrie 2 (1996, mit Beiträgen von Peter Malina, Wolfgang Neugebauer u.a.); Herwig Czech, Erfassung, Selektion und "Ausmerze". Das Wiener Gesundheitsamt und die Umsetzung der nationalsozialistischen "Erbgesundheitspolitik" 1938 bis 1945, Wien: Deuticke (2003).

Das Seminar, das Czech am Mittwoch halten wird, zählt zur wöchentlichen Reihe der Junior-Visiting-Fellows-Seminars. Am Ende eines jeden Semesters präsentieren die Junior-Fellows zudem ihre Ergebnisse im Rahmen einer Konferenz, die Papers werden anschließend online auf der Website des IWM publiziert.
->   Die bisher erschienenen Konferenzen im Überblick (www.iwm.at)
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01.01.2010