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Spracherwerbsforschung am eigenen Sohn  
  Wie erlernen Babys das Sprechen? Um diese Frage zu beantworten, setzt Deb Roy vom Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) seine eigene Familie als Versuchskaninchen ein: Er lässt seinen Sohn im eigenen Haus 14 Stunden am Tag mit Videokameras und Mikrofonen überwachen - und das 365 Tage im Jahr.  
Sollte das Projekt erfolgreich sein, könnte es zur Entwicklung neuer Diagnose- und Behandlungsstrategien bei Sprachstörungen beitragen. In der Zwischenzeit bleiben aber ethische Bedenken an der Versuchsanordnung.
"Baby Brother" is watching you
Seit Deb Roys neugeborener Sohn die Geburtsklinik verlassen hat und nach Hause gekommen ist, werden er und alle anderen Familienmitglieder täglich von 8.00 bis 22.00 Uhr überwacht.

Roy hat dafür ein ausgeklügeltes Netzwerk von 14 Mikrofonen und 11 "Fischaugen"-Kameras entwickelt, die in jedem Raum des Hauses angebracht sind. Um eine gewisses Gefühl von Privatheit zu wahren, können Roy und seine Frau jedoch einzelne Kameras abschalten oder Aufnahmen löschen.

Die Filmaufnahmen dieses "Speechomes" - so auch der Projekttitel - werden automatisch ans MIT übermittelt. Dort identifizieren Computeralgorithmen die Aktivitäten in den einzelnen Räumen und nehmen eine Unterteilung in so genannte "Verhaltensfragmente" vor. Wissenschaftler nehmen dann eine differenziertere Klassifizierung vor und vergleichen die geordneten Filmaufnahmen mit jenen Lauten, die Roys mittlerweile neun Monate alter Sohn von sich gibt.
->   Zeitlupenaufnahmen des Speechome-Projekts
Erkenntnisse über Sprachentwicklung erhofft
Die Forscher hoffen, mit dieser Methode Erkenntnisse über jene Stimuli zu gewinnen, die die einzelnen Entwicklungsschritte im Spracherwerb beeinflussen. Denn wie Kleinkinder es schaffen, innerhalb von drei Jahren von unverständlichem Gebrabbel auf flüssige Rede umzustellen, ist noch immer Gegenstand heftiger Debatten.

Nur durch Zuhören allein kann ein Kind die Grundregeln einer Sprache nicht erfassen, darin sind sich die meisten Psycholinguisten einig. Welchen Einfluss spezifische "Sprach-Gene" und non-verbale Umwelteinflüsse auf den Spracherwerb haben, ist jedoch umstritten.
Ethische Bedenken
Die auf drei Jahre angelegte Beobachtung von Roys Sohn wird jedenfalls detailliertere Einblicke in den Spracherwerb von Kleinkindern bieten als alle bisherigen Studien, meint der Psycholinguist Steven Pinker von der Harvard University, der das Projektteam berät.

Dass das gesamte Überwachungsprojekt auch eine Reihe von ethischen Fragen aufwirft, ist Deb Roy bewusst. Die Vorteile für seinen Sohne würden jedoch überwiegen: "Er könnte die erste Person sein, deren Gedächtnis bis zur Geburt zurückgeht."
Experimentierende Väter
Roy ist nicht der erste ambitionierte Vater in der Wissenschaftsgeschichte, der seine eigenen Kinder als Probanden für Studien zum Spracherwerb und zur Entwicklungspsycholgie einsetzt.

Bereits der Schweizer Psychologe Jean Piaget (1896-1980) hat seine Theorien über die Entwicklung des Denkens und der Intelligenz hauptsächlich aus Untersuchungen an seinen drei Kindern gewonnen. Piaget beobachtete, wie diese allmählich die Gegenstände und Personen in ihrer Umgebung erfassten und notierte ihre Gespräche. Auf dieser - schmalen - Basis entwickelte er in den 1930er Jahren sein bekanntes Stadienmodell der kognitiven Entwicklung von Kindern.
->   Jean Piaget - Wikipedia
Von Kellogs Affen-Experiment...
Einen Schritt weiter im Experiment am eigenen Kind ging der US-amerikanische Psychologe Winthrop Kellogg (1898-1972) Anfang der 30er Jahre. Er wollte der Frage auf den Grund gehen, ob es die Umwelt ist, die bestimmt, wie wir uns kognitiv und psychisch entwickeln, oder unsere genetische Veranlagung. Zu diesem Zweck zog er seinen zehn Monate alten Sohn Donald mit dem sieben Monate alten Schimpansenbaby Gua in einem gemeinsamen Haushalt auf.

Donald und Gua wurden gleich behandelt, gleich erzogen - und dabei ständig beobachtet und gefilmt. Nach neun Monaten musste Kellogg das Experiment vorzeitig abbrechen: Donald ahmte Gua derart eifrig nach, dass er zwar etliche Gesten der Schimpansensprache und das Klettern gelernt hatte, jedoch lediglich drei menschliche Wörter.
->   Mehr zum Experiment von Winthrop Kellogg (NZZ-Folio)
... zu den Impfversuchen von Jenner und Sabin
Noch weniger zimperlich bei Versuchen an der eigenen Familie war die frühe Impfstoffforschung. 1789 impfte der englische Arzt Edward Jenner (1749-1823) seinen Sohn mit den für harmlos gehaltenen Schweinepocken, um ihn gegen die beginnende Pockenepidemie zu immunisieren.

Kritiker hielten dem Begründer der modernen Schutzimpfung gegen Pocken vor, dass es gottlos sei, Menschen mit einem aus Kadavern gewonnenen Heilserum zu impfen. Die Impfung seines eigenen Sohnes sollte nicht zuletzt die Glaubwürdigkeit seiner Studien unterstreichen.

Auch der US-amerikanische Immunbiologe Albert Sabin (1906-1993), der Anfang der 1960er Jahre eine Schluckimpfung gegen Kinderlähmung entwickelte, probierte den Impfstoff zunächst an seinen beiden Töchtern aus, die damals sechs und acht Jahre alt waren. Nebenwirkungen waren keine zu beobachten; rasch wurde die Polio-Schluckimpfung zum neuen Impfstandard. Sabins Töchter verziehen ihren Vater jedoch nie, dass er an ihnen experimentiert hatte.
->   Albert Sabin - Wikipedia
Fragwürdige Praxis?
Von den leiblichen Risiken solcher Impftests ist Deb Roys Spracherwerbsexperiment weit entfernt. Dennoch lässt sich auch anhand dieser Versuchsanordnung über die ethischen Grenzen von Versuchen an Kindern diskutieren - und darüber, in wie weit solche Experimente der wachsenden Überwachungsgesellschaft Vorschub leisten.

Martina Nußbaumer, science.ORF.at, 17.05.06
->   Watch language grow in the baby-brother house (New Scientist)
->   Deb Roy, Media Lab, MIT
->   Steven Pinker, Harvard University
->   Experimentierende Eltern (heureka)
 
 
 
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01.01.2010