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Die Psychoanalyse wird erwachsen  
  Der Vorwurf, wonach das Werk Sigmund Freuds "unwissenschaftlich" sei, zielt zunehmend ins Leere. Nicht nur psychoanalytische Grundannahmen, sondern auch ihre therapeutische Wirkungen wurden mittlerweile gründlich empirisch untersucht. Auch wenn das noch nicht allgemein bekannt ist, sei dies ein Zeichen des "Erwachsenwerdens" der Psychoanalyse, meint der Gesundheitspsychologe Gerald Poscheschnik in einem Gastbeitrag.  
Psychoanalyse und wissenschaftliche Forschung
Von Gerald Poscheschnik

Die Psychoanalyse ist und bleibt umstritten. Karl Popper hat ihr bekanntlich die Wissenschaftlichkeit abgesprochen, weil sie nicht falsifizierbar sei. Adolf Grünbaum wiederum hat das genaue Gegenteil behauptet und zwar, dass sie sehr wohl falsifizierbar sei, ihre Theorien aber empirisch kaum haltbar sein dürften.

Es ist und bleibt das Privileg von Philosophen, Behauptungen aufstellen zu können, ohne die Beweislast tragen zu müssen.

Sichtet man nämlich die Vielzahl an wissenschaftlichen Untersuchungen zur psychoanalytischen Theorie, zeichnet sich ein gänzlich anderes Bild ab: Aufbauend auf den Arbeiten amerikanischer Psychologen aus den 70er Jahren, die in unseren Breiten nur wenig rezipiert wurden, haben die deutschen Psychologen Christoph Werner und Arnold Langenmayr unlängst ein vierbändiges Übersichtswerk ("Psychoanalyse und Empirie") vorgelegt, in dem weit über tausend empirische Arbeiten zur Überprüfung psychoanalytischer Theorien zusammengefasst sind.
->   "Psychoanalyse und Empirie" (Verlag Vandenhoeck & Ruprecht)
Experimentelle Bestätigung der freudschen Verdrängung
Einhelliger Tenor ist, dass sich selbst komplexe psychoanalytische Theorien bis zu einem gewissen Grad wissenschaftlich überprüfen lassen und diese Überprüfung weitgehend positiv ausfällt.

So hat z. B. Thomas Köhler von der Universität Hamburg in einer Reihe von Assoziationsexperimenten, die freudsche Theorie der Verdrängung getestet. Diese besagt in nuce, dass unangenehme Gedanken in den Bereich des Unbewussten verschoben werden.

Dazu wurden Versuchspersonen gebeten, zu einer Reihe von Wörtern eine erste spontane Assoziation zu bilden. Ganz in Übereinstimmung mit der freudschen Theorie der Verdrängung zeigte sich, dass die emotional negativ erlebten Assoziationen zu einem späteren Zeitpunkt schlechter in Erinnerung gerufen werden konnten als neutral oder positiv eingestufte.
Anderen Theorien fehlt empirische Überprüfung
Entgegen des selbst in wissenschaftlichen Kreisen noch immer weit verbreiteten Vorurteils, psychoanalytische Theorien seien entweder unüberprüfbar oder mangelnd empirisch fundiert, weist eine große Anzahl empirischer Untersuchungen darauf hin, dass die wesentlichen Theorien Freuds - von seinen Annahmen über Träume und Fehlleistungen über die Abwehrmechanismen bis hin zur frühen Kindheit - im Großen und Ganzen eine frappant gute empirische Fundierung aufweisen.

Insofern kommt man auch nicht umhin, eine gewisse Paradoxie zu attestieren, wenn andere humanwissenschaftliche Theorien, welche bei weitem nicht mit einer derartigen Masse an empirischer Evidenz aufwarten können, völlig unhinterfragt an Universitäten unterrichtet werden, während die Psychoanalyse als unwissenschaftlich diffamiert und damit apriorisch aus dem Diskurs ausgegrenzt wird.
Psychoanalyse selbst lange uninteressiert an Empirie
Allerdings kommt man auch nicht umhin, festzustellen, dass der psychoanalytische Mainstream für lange Zeit nur sehr wenig Notiz von den Forschungsbemühungen in den eigenen Reihen und den Fortschritten der Nachbardisziplinen genommen hat.

Erst seit einiger Zeit beginnt man in der Community die Pionierleistung jener psychoanalytischen Forscher zu würdigen, die sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts um eine empirische Überprüfung der Theorien verdient gemacht haben.

Vor allem die Subliminalitätsexperimente, bei denen Versuchspersonen optische Reize nur für einen Sekundenbruchteil und somit unterhalb der subjektiven Wahrnehmungsschwelle präsentiert werden, haben viel zur Bestätigung und Erweiterung psychoanalytischer Theorien und zum Verständnis unbewusster Informationsverarbeitung beigetragen.
Beispiel: Subliminalitätsexperimente
Einer der bedeutendsten zeitgenössischen Vertreter auf diesem Gebiet ist der amerikanische Psychologe Howard Shevrin, der Mitte der 90er Jahre in einem raffinierten Experiment die Existenz unbewusster Konflikte getestet hat.

Solche gelungenen Experimente haben der empirischen Forschung in der Psychoanalyse Aufwind verschafft und viel dazu beigetragen, dass heute mehr und mehr die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit akzeptiert wird, psychoanalytische Theorie und Therapie einer wissenschaftlichen Überprüfung zu unterziehen und den interdisziplinären Dialog zu kultivieren.

Dass so eine interdisziplinäre Liaison für beide Seiten gewinnbringend und fruchtbar sein kann, stellt der nunmehr voll in Gang gekommene Dialog zwischen der Psychoanalyse und den Neurowissenschaften unter Beweis.
Dialog zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften
So hat z. B. der US-amerikanische Neurowissenschaftler und Nobelpreisträger österreichischer Abstammung Eric R. Kandel die Psychoanalyse in einem viel beachteten Artikel unlängst als "the most coherent and intellectually satisfying view of the mind" bezeichnet. Auch der Hirnforscher Gerald Edelman, seines Zeichens ebenfalls Nobelpreisträger, spricht in höchsten Tönen von Freud und der Psychoanalyse.

Und der Londoner Psychoanalytiker und Neurowissenschaftler Marc Solms hat vor fast einem Jahrzehnt die Zeitschrift Neuro-Psychoanalysis aus der Taufe gehoben, die sich ganz der Konnexion von Psychoanalyse und Neurowissenschaften verschrieben hat.

Freud hätte sicher seine Freude daran gehabt, dass sich psychoanalytische Erkenntnisse in Übereinstimmung mit neurologischen Daten befinden, hat er doch Zeit seines Lebens die Hoffnung bewahrt, die Psychoanalyse könnte eines Tages auf biologische Fundamente gestellt werden.
->   Artikel von Eric R. Kandel (pdf-Datei; American Journal of Psychiatry)
Auch Wirksamkeit wurde überprüft
Aber nicht nur die theoretischen Aspekte der Psychoanalyse wurden empirisch validiert, auch die Wirksamkeit der psychoanalytischen Therapie ist vielfach überprüft.

Wie Meta-Analysen von z.B. Bruce Wampold oder Falk Leichsenring, bei denen eine größere Anzahl von einzelnen Wirksamkeitsstudien zusammengefasst und statistisch verrechnet werden, zeigen, weisen alle Formen von Kurzzeittherapien eine in etwa gleich gute Wirksamkeit auf, vorausgesetzt die Therapien werden von kompetenten und erfahrenen Psychotherapeuten durchgeführt.

Mittlerweile liegt auch eine stattliche Anzahl von empirischen Studien zur Wirksamkeit psychoanalytischer Langzeittherapien vor.
->   Meta-Analyse von Falk Leichsenring et al. (Archives of General Psychiatry)
Fähigkeit zur Selbstanalyse wird erlernt
Die Ergebnisse besagen, dass diese durchschnittlich zu einem höheren Verbesserungsausmaß und einer nachhaltigeren Wirkung führen als Kurzzeittherapien.

So konnte R. Sandell in seiner Stockholm-Studie nachweisen, dass Psychoanalysen selbst mehrere Jahre nach deren Beendigung zu weiteren Verbesserungen führen, weil - so vermutet man - im Patienten ein Art Fähigkeit zur Selbstanalyse entstanden ist, die es ihm erlaubt, neu auftauchende Lebensprobleme aktiv zu meistern.
->   Praxisstudie analytische Langzeittherapie von Gerd Rudolf et al. (Ärzteblatt)
Weitere Überprüfungen notwendig
Als ein Fazit lässt sich formulieren, dass die Psychoanalyse im Begriffe ist, wissenschaftlich erwachsen zu werden. Ihre Theorien sind empirisch vielfach mit unterschiedlichen Forschungsdesigns und sowohl qualitativen als auch quantitativen Methoden überprüft und bestätigt worden. Die Wirksamkeit ihrer Therapie steht heute außer Zweifel.

Manches musste freilich auch verworfen werden, so z. B. einige von Freuds Vermutungen über die weibliche Sexualität oder der spekulative Dualismus von Lebenstrieb und Todestrieb. Anderes wiederum harrt noch einer eingehenden empirischen Überprüfung.

Dass manches verworfen und manches bestätigt wird, ist freilich kein Spezifikum der Psychoanalyse, sondern der typische Lauf der Dinge in allen Wissenschaften.

[19.5.06]
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Über den Autor:
Gerald Poscheschnik, Mag. Psychologe, Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe. Forschungs- und Interessensschwerpunkte: Wissenschaftstheorie, Methodologie, Empirische Forschung in der Psychoanalyse.
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->   Zeitschrift Neuro-Psychoanalysis
->   Sigmund Freud-Institut Frankfurt/Main
->   Freud-Jahr 2006 in Radio Österreich 1
Mehr zum Freud-Jahr 2006 in science.ORF.at:
->   Vamik Volkan: Psychoanalyse - Vernunft in Zeiten der Gewalt (12.5.06)
->   Neurowissenschaft auf der Suche nach "Ich" und "Es" (5.5.06)
->   H. Rosenstrauch: Freud war darauf vorbereitet, in Opposition zu gehen (28.4.)
->   K. Lebersorger: Von Sigmund Freud zu den "Super Nannys" (21.4.06)
->   Überblick: 150. Geburtstag von Sigmund Freud
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Buchtipps:
Giampieri-Deutsch, P. (Hrsg.) (2002): Psychoanalyse im Dialog der Wissenschaften. Band 1: Europäische Perspektiven. Band 2: Anglo-amerikanische Perspektiven. Stuttgart (Kohlhammer).

Kandel, E.R. (2005): Psychiatry, Psychoanalysis, and the New Biology of Mind. Washington (American Psychiatric Publishing).

Poscheschnik, G. (Hrsg.) (2005): Empirische Forschung in der Psychoanalyse. Grundlagen - Anwendungen - Ergebnisse. Gießen (Psychosozial-Verlag).

Stuhr, U./M. Leuzinger-Bohleber/M. Beutel (Hrsg.) (2001): Langzeit-Psychotherapie. Perspektiven für Therapeuten und Wissenschaftler. Stuttgart (Kohlhammer).

Werner, C./A. Langenmayr (2005): Psychoanalyse und Empirie. 4 Bände. Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht).

Solms, M./O. Turnbull (2003): Das Gehirn und die innere Welt. Neurowissenschaft und Psychoanalyse. Patmos (Walter) 2004.
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01.01.2010