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Teilhabe-Gesellschaft: Revolution des Sozialstaats  
  1999 haben US-Politologen ein neues Modell vorgestellt, das die Chancengleichheit in der Gesellschaft drastisch erhöhen und den Sozialstaat revolutionieren soll. Alle Bürger bekommen in der "Stakeholder-Society" mit 18 Jahren rund 60.000 Euro vom Staat geschenkt, über die sie frei verfügen und etwa in Ausbildung oder Beruf investieren können. Der deutsche Soziologe Claus Offe hat das Modell nun auf europäische Verhältnisse umgerechnet - und hält es für einen wesentlichen Beitrag, um die Nachteile sozialer Herkunft zu kompensieren.  
Das Konzept der "Teilhabe-Gesellschaft" wurde vor sieben Jahren von den beiden US-amerikanischen Politökonomen Bruce Ackerman und Anne Alstott in einem Buch formuliert.

Claus Offe und seine Ko-Autoren haben es heuer im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung auf deutsche Verhältnisse übertragen. Offe ist derzeit Gast am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien und hat den "Sozialkontrakt mit Zukunftsperspektive" nun vorgestellt.
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Veranstaltungshinweis
Claus Offe hält im Rahmen der IWM-Vorlesungen "Soziale Macht: Formen, Kontrolle und Nutzen" am Dienstag einen Vortrag mit dem Titel "Macht und Kultur".
Ort: IWM, Spittelauer Lände 3, 1090 Wien
Zeit: 23. Mai, 18 Uhr
->   IWM
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Auseinanderfallen der Gesellschaft
Ausgangspunkt der Überlegungen von Offe ist das "Auseinanderfallen der Gesellschaft". Bis zu 20 Prozent der Menschen in den OECD-Ländern seien nicht mehr integriert in den Arbeitsmarkt, in die kulturellen Institutionen und in die Parteien.

Von dieser gesellschaftlichen Exklusion besonders betroffen: Jugendliche, Migranten, Schulversager, Menschen mit Behinderungen, Suchtkranke und Kriminelle.
60.000 Euro für Bildung, Beruf, ...
Zentraler Gedanke der Teilhabergesellschaft ist nun, dass alle Bürger ungeachtet ihrer Herkunft mit Vollendung des 18. Lebensjahrs ein steuerfinanziertes Startkapital bekommen. Der Soziologe geht von einer Summe von 60.000 Euro aus.

Der Erwerb dieses Geldes ist aber an die Bedingung geknüpft, eine abgeschlossene Berufsbildung oder einen Schulabschluss aufweisen zu müssen. Wer dies nicht kann, erhält nicht den Gesamtbetrag, sondern lediglich die Zinsen.

Über den Betrag kann jeder frei verfügen, die Aussicht auf die Gesamtsumme soll Anreiz sein, das Geld sinnvoll zu verwenden - etwa zur Finanzierung eines Studiums, die Anzahlung einer Wohnung oder die Gründung eines Wirtschaftsbetriebs.
Vermögenssteuer und Erbschaftsänderung
Offe hält den Vorschlag im Gegensatz zu manchem Kritiker auch für finanzierbar. Laut seinen Berechnungen wären in Deutschland pro Jahr rund 30 Milliarden Euro nötig - vorausgesetzt eine Reihe von Sozialleistungen würden eingespart, darunter die Mittelstandsförderung und Studienbeihilfen.

Finanziert werden soll das in einer Übergangszeit von etwa 40 Jahren über eine 1,5-prozentige Vermögenssteuer.

Danach soll jeder, der am Ende seines Lebens ein Vermögen hinterlässt, den Realwert der geschenkten 60.000 Euro in einen Fonds einzahlen, aus dem sich das Geld für die neue Generation von 18-Jährigen speist.
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Die vollständige Studie erscheint im Herbst unter dem Titel "Die Teilhabegesellschaft" im Campus-Verlag. Eine Kurzversion ist bereits jetzt auf der Homepage der Heinrich-Böll-Stiftung zu finden.
->   Kurzfassung der Studie (pdf-Datei)
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Disziplin gegen Geldverschwendung
Zwei Haupteinwände bleiben: Die Befürchtung, dass die jungen Menschen das Geld einfach verjuxen, und die Frage, ob das Gießkannenprinzip die Nachteile sozialer Herkunft tatsächlich beseitigen kann.

Ersteres hält Offe für "ein generalisiertes Negativurteil, das nicht gerechtfertigt ist." Mit entsprechender begleitender Aufklärung von Seiten der Schulen, des Elternhauses und der Medien würden die meisten schon den richtigen Weg wählen.

Wenn unbedingt jemand eine Reise zu den Osterinseln mit dem Geld machen will, so solle er das tun. Er soll aber auch wissen, dass das "eine sehr riskante Idee ist. Es bedarf noch eines Kranzes an Informationen und beratender sowie disziplinierender Maßnahmen, die die Wahrscheinlichkeit geringer macht, dass sich die Menschen töricht verhalten", so Offe gegenüber science.ORF.at.
Anreize auch für "bildungsferne Schichten"
Und was die Wichtigkeit der sozialen Herkunft betrifft: Dass der Lern- und Ausbildungserfolg stark am Umfeld junger Menschen liegt, ist laut Offe nicht zu bezweifeln. Diese Nachteile der "bildungsfernen Schichten" seien mit dem "bescheidenen Vorschlag" auch nicht zu kompensieren.

Das Teilhabe-Modell stelle aber einen Anreiz dar, "trotz widriger Umstände nicht aufzugeben und sich trotzdem anzustrengen. Das wird in mehr Fällen gelingen als bisher."
Keine "Selbstökonomisierung"
Ursache dafür ist etwas, das Offe eine "Rationalisierung der Lebensplanung" nennt: das Wissen, dass man später eine große Chance erhalten wird, die man nützen kann oder auch nicht.

Dass dies einhergehen könnte mit einer "Selbstökonomisierung der Menschen", einer verstärkten Ausrichtung auf wirtschaftliche Interessen, daran glaubt Offe nicht.

"Niemand zwingt bei dem Modell jemanden in unternehmerischer Weise mit sich selbst umzugehen und Einkommen zu maximieren. Wenn am Lebensende kein Vermögen übrig bleibt, das zurück in den Fonds gezahlt wird, dann eben nicht."
Politische Reaktionen bisher verhalten
Die Reaktionen der Politik auf die Vorschläge seien bisher eher verhalten, berichtet Offe. Gewerkschaften und Sozialdemokraten würden sagen: "Klingt wirklich toll, und wir müssen ganz neue Wege gehen, aber das passt nicht zu Deutschland und seinem Sozialsystem."

Andere halten es für nicht finanzierbar und setzen andere fiskalische Prioritäten. Vertretern linker politischer Parteien meinen, dass der Vorschlag Klassen-, Kultur- und Subkulturunterschiede nicht weit genug neutralisieren würde. Dies sei aber kein Grund, gar nicht erst damit anzufangen, meint Offe.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 23.5.06
->   Claus Offe, Humboldt-Uni Berlin
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Literaturhinweis:
Bruce Ackerman, Anne Alstott: Die Stakeholder-Gesellschaft, Campus Verlag, Frankfurt/M., 2001
->   Mehr über das Buch (Campus)
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01.01.2010