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Bewusstseins-Boom in Philosophie und Neurowissenschaft  
  Gehirnforschung und Neuropsychologie haben in den vergangenen Jahren erstaunliche Einblicke in neuronale Vorgänge geliefert - doch trotz allen technischen Fortschritts gibt es nach wie vor keine hinreichende naturwissenschaftliche Erklärung für das Phänomen "Bewusstsein". Letzteres ist auch ein zentrales Thema der Philosophie. Mit dem "Bewusstseins-Boom" in Philosophie und Neurowissenschaft beschäftigt sich Thomas Szanto vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in einem Gastbeitrag.  
Brauchen wir eine Naturwissenschaft des Bewusstseins?

Von Thomas Szanto

Die klassisch metaphysische Frage nach dem Verhältnis von Natur und Geist ist in den letzten Jahren zusehends in den Mittelpunkt unterschiedlicher wissenschaftlicher Diskurse gerückt. Diskussionen über den Status des Bewusstseins in unserem weitgehend physikalistisch geprägten Weltmodell haben längst den wohldefinierten Rahmen akademischer Fachphilosophie verlassen und Eingang in die Feuilletons gefunden.

Im Zuge der rasanten technologischen Entwicklungen auf dem Gebiet der der Gehirnforschung und der experimentellen Neuropsychologie hat die Frage nach der konzeptuellen Bestimmung, der kausalen Funktion und den materiellen Grundlagen von Bewusstsein heute an allgemeiner Brisanz gewonnen - steht doch dabei nichts weniger als das Fundament unseres Selbst- und Weltverständnisses zur Disposition.

Unerachtet dieses boomenden Forschungsinteresses an der kognitiven Architektur unserer mentalen Zustände und der auf rätselhafte Weise mit ihnen korrelierten neuronalen Gehirnvorgänge, scheint sich jedoch gerade das intuitiv so wenig problematische Phänomen des Bewusstseins einer naturwissenschaftlich fundierten Erklärung hartnäckig zu entziehen.
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Institut für die Wissenschaften vom Menschen
Seminar am IWM: Mittwoch, 24. Mai, 14.30 Uhr
Thomas Szanto, Doktorand im Fach Philosophie an der Universität Wien und DOC-Stipendiat der ÖAW, stellt sein Forschungsprojekt zum hier skizzierten Thema am 24. Mai um 14:30 Uhr in einem "Junior-Visiting-Fellows-Seminar" unter dem Titel "What 'Science of Consciousness'? Towards a Phenomenological Critique of Naturalistic Theories of the Mind" zur Diskussion.

IWM, Spittelauer Lände 3, 1090 Wien, U4 Friedensbrücke (events@iwm.at; Tel.: 01-313 58 0).
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
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Funktionalisierung oder Eliminierung des Bewusstseins?
So versucht eine breite Front naturalistischer Philosophen im Umkreis der Kognitionswissenschaften Bewusstsein als ein funktionelles Repräsentationssystem nach dem Modell komputationaler Informationsverarbeitung zu beschreiben - ein Modell, das trotzt der enttäuschten Hoffnungen der Künstlichen Intelligenz-Forschung der 60er und 70er Jahre die Naturalismus-Debatte immer noch weitgehend beherrscht.

Vertreter einer reduktionistischen "Neurophilosophie" wie beispielsweise Patricia und Paul Churchland halten überhaupt die bloße Rede vom Bewusstsein für eine schlechte Angewohnheit unserer naiven "Alltagspsychologie". Sie plädieren daher für die Eliminierung unseres gesamten "mentalistischen Idioms", das wir bei der Erklärung gewisser Verhaltensäußerungen und kognitiver Phänomene (wie z.B. Wahrnehmung, Erinnerung, Urteilsbildung) üblicherweise verwenden.
->   P. Churchland: "A neurophilosophical slant on consciousness research" (pdf-Datei)
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Der Begriff "Bewusstsein"
Das deutsche Wort "Bewusstsein" ist eine relativ moderne, genuin philosophische Begriffskonstruktion. Es taucht zum ersten Mal 1719 in einer Schrift von Christian Wolff in der Form "das Bewusst seyn" auf und diente vermutlich als Behelfsübersetzung des Cartesischen Begriffs der "conscientia".
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Die "leichten" und "schwierigen" Probleme des Bewusstseins
Opponenten dieser reduktionistischen Erklärungsmodelle wie David Chalmers haben zu Recht eingewandt, dass die neuro- und kognitionswissenschaftlichen Beschreibungen typischerweise nur die so genannten "leichten" Probleme des Bewusstseins erfassen, wie etwa responsives Verhalten oder die Fähigkeit zur Diskrimination sinnlicher Daten.

Demgegenüber - so die These - erweist sich jedoch das eigentlich "schwierige", philosophisch interessante Problem des Bewusstseins, nämlich der subjektive Erlebnisgehalt all dieser Bewusstseinszustände, dem verobjektivierenden Zugriff der Naturwissenschaften gegenüber notorisch resistent.

Chalmers: Facing Up to the Problem of Consciousness
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Phänomenologie des Bewusstseins
Edmund Husserl, der Begründer der einflussreichen philosophischen Tradition der Phänomenologie, hat in seiner vielzitierten Theorie der Intentionalität bereits vor einem knappen Jahrhundert diese irreduzible, epistemische Multidimensionalität des Bewusstseins klar herausgearbeitet.

Demnach müssen wir bei jedem mentalen Erlebnis zwei korrelative Aspekte unterscheiden: Einerseits den intentionalen Aspekt, d.i. die jeweilige Art und Weise der repräsentationalen Bezugnahme auf das Objekt des Bewusstseins; andererseits den phänomenalen Aspekt des Vollzugs dieser intentionalen Bezugnahme durch das Subjekt. Formelhaft gesprochen meint also der phänomenologische Sinn des Prädikats "bewusst" soviel wie: "Jemandem ist Etwas in einer perspektivisch bestimmten Art und Weise gegeben."
->   Edmund Husserl in der Stanford Encyclopedia of Philosophy
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Erklärungslücken und kognitive Barrieren
Es scheint jedenfalls eine Erklärungslücke zwischen dem subjektiven Erleben (etwa eines stechenden Schmerzes) und der neurophysiologischen Beschreibung der Stimulation gewisser Gehirnareale zu klaffen. In diesem Befund stehen die Ansätze aus der gegenwärtigen Philosophie des Geistes in grundsätzlichem Einklang mit den Analysen der klassischen Phänomenologie.

Lässt sich nun diese Lücke einfach durch ein avancierteres neurophysiologisches Modell schließen? Oder müssen wir - wie der Philosoph Colin McGinn zu bedenken gibt - auf Grund prinzipieller "kognitiver Barrieren" auf ewig vertröstet werden, wenn es um die naturwissenschaftliche Erklärung der Korrelation unseres phänomenal erlebten Bewusstseins mit unserem physiologisch determinierten Körper geht?
->   Informationen zu Colin McGinn (Wikipedia)
->   Pressestimmen zu McGinns Arbeit (perlentaucher.de)
Wo ist der "Blick von Nirgendwo" - und wo stehen wir?
Der prominente amerikanische Philosoph Thomas Nagel glaubt diese epistemische Lücke durch die Etablierung eines quasi vogelperspektivischen Meta-Standpunktes überbrücken zu können, welcher beide Perspektiven - sowohl die subjektive Innenperspektive als auch die naturwissenschaftlich-objektive Außenperspektive - gleichermaßen berücksichtigt.

Am gegenwärtigen Stand der Bewusstseinsforschung scheint freilich ein solch umfassender "Blick von Nirgendwo" noch lange nicht in Sicht.

Mit welchen Antworten die Naturwissenschaften dem Rätsel des Bewusstseins in Zukunft begegnen werden, wird jedenfalls wesentlich davon abhängen, was wir von einer Theorie des Bewusstseins überhaupt erwarten.

Solange jedoch nicht einmal klar ist, was eine solche Theorie - im Unterschied zur gegenwärtigen Neurobiologie des Gehirns - überhaupt erklären soll, ist man gut beraten, die reichhaltigen konzeptuellen Klärungen, die Philosophen zu diesem vermeintlichen "Rätsel" bereits beigetragen haben, nicht von vornherein zu ignorieren.

[24.5.06]
->   Stanford Encyclopedia of Philosophy zu "Consciousness"
->   Sammlung von Online-Artikeln zu "Bewusstsein"
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Informationen zum Autor
Thomas Szanto arbeitet derzeit an seiner Dissertation zum hier skizzierten Thema mit dem Arbeitstitel "Bewusstsein und mentale Repräsentation. Subjektivität im Spannungsfeld phänomenologischer und naturalistischer Bestimmungen".
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01.01.2010