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Militärmusik und kulturelle Identität in der k. u. k. Zeit  
  Das Ende des 19. Jahrhunderts war eine Blütezeit der patriotischen Musik. Sie dienten der Legitimierung der Imperien und Nationalstaaten Europas. In welcher Form das Phänomen der Militärmusik in Österreich-Ungarn kulturelle und staatliche Identität gestiftet hat, erörtert der Musikwissenschaftler Jason S. Heilman, derzeit Junior Fellow am IFK in Wien, anlässlich eines Vortrages.  
Musik zur Legitimierung eines Imperiums
Bild: IFK
Von Jason S. Heilman

Das ausgehende 19. Jahrhundert gilt als goldenes Zeitalter der Militärmusik in Österreich-Ungarn. Damals nahmen alle Bevölkerungsschichten an den zahlreichen Paraden und öffentlichen Konzerten teil, Berichte über die militärischen Konzerte erregten häufig die gleiche Aufmerksamkeit wie Konzertkritiken über Veranstaltungen im Musikverein.

Durch Beiträge von Franz Lehár und der Strauß-Familie wurde die Trennlinie zwischen Militärmusik und populärer Musik brüchig und viele Militärkapellmeister der Epoche - vornehmlich J. F. Wagner, Julius Fuèik und C. M. Ziehrer - sind bis heute berühmt.
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Vortrag am IFK
Jason S. Heilman hält am 29. Mai, 18.00 c.t. am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen öffentlichen Vortrag mit dem Titel "Militärmusik and Cultural Identity in the Austro-Hungarian Empire".
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über die Veranstaltung (IFK)
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Willy Jurek gegen Ludwig van Beethoven
Laut einer gängigen These litt das zerfallende österreichisch-ungarische Reich bereits Ende des 19. Jahrhunderts unter den zahlreichen nationalistischen Unabhängigkeitsbewegungen der Kronländer, die schließlich zum Kollaps des Reiches führten.

Wie aber ist es möglich, dass genau während der stärksten Krise patriotische Musik derart erfolgreich sein konnte? Und wie kommt es, dass Märsche und Militärmusik so beliebt sind, dass viele Österreicher bis heute den Text zu Willy Jureks "Deutschmeistermarsch" aus dem Jahr 1893 auswendig rezitieren können, während Märsche aus anderen Epochen - einschließlich von Beiträgen Beethovens - in Vergessenheit geraten sind?

Ist diese Tatsache einfach kennzeichnend für das künstlerische Geschick des Komponisten (Jurek geschickter als Beethoven), oder sind andere Faktoren entscheidend?
Imperiale Selbstlegitimierung
Vorweg: Dieses Phänomen betrifft nicht nur Österreich; das Ende des 19. Jahrhunderts war in der westlichen Welt die Blütezeit der patriotischen Musik schlechthin. Zum Selbstlegitimierungsprozess von Imperien im späten 19. Jahrhundert gehörte die Schaffung patriotischer Musikrepertoires, viele zeitgenössische Nationalhymnen haben ihren Ursprung in dieser Zeit.

In einem zur Kanonisierung der westlichen Kunstmusik parallel laufenden Prozess bildeten sich in den großen Reichen der Epoche kleinere patriotische Kanons, die bis heute zum größten Teil erhalten geblieben sind. Traditionelle Theorien zum Ende des Habsburgischen Reiches deuten die misslungenen Versuche, eine durchgängige Staatsidentität zu etablieren, als primäre Auslöser des Verfalls.

Dennoch entstand im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Art imperiale österreichisch-ungarische Identität. Das bestätigt der umfangreiche Kanon amtlicher Musik der k. u. k. Armee.
Musikalisches "Österreichertum"
Mit diesem Kanon patriotischer Musik ist aber weit mehr verbunden als eine bloße musikalische Begleitung der k. u. k. Armee: In den Ohren vieler verkörperte er den Inbegriff des "Österreichertums". Doch wie ist dies möglich?

An sich teilt Musik nichts mit. Werke, die spezifische Konzepte vermitteln wollen (z. B. Dukas' "L'apprenti sorcier"), sind gewöhnlich auf mehr als bloß Klänge oder Töne angewiesen (hier: auf einen Titel und ein detailliertes Programm), um dieses kommunikative Ziel zu erreichen. Ohne solche Begleitmaterialien verschwindet die Bedeutung.

Trotz der Bedeutsamkeit außermusikalischer Elemente muss aber schließlich die Musik selbst dafür sorgen, dass die Wirkung des Werkes für die Zuhörer "greifbar" wird. Nach diesem Verfahren funktionieren auch patriotische Werke.
Das Erfüllen von Publikumserwartungen
Es wird daher nicht helfen, eine Komposition einfach "O du mein Österreich" zu betiteln, um ein patriotisches Werk zu schaffen. Derart geweckte Erwartungen müssen auch eingelöst werden.

Militärische Märsche führen die in ihren Titeln angedeuteten Befehle mit Präzision aus. Klänge in der Musik - insbesondere instrumentale Konfigurationen und musikalische Idiome aus Vorgängerwerke des nationalen Kanons - wirken wie Platzhalter, die den Zuhörer in Richtung einer bequemen patriotischen Deutung mittels Ähnlichkeit und Wiederholung steuern.

Ein Marsch muss nicht einmal besonders erfolgreich sein (d.h. "Ohrwurm-Potential" besitzen), damit dieser Prozess funktioniert. Er muss bloß ein Minimum an Publikumserwartungen erfüllen, um, wenn auch nicht zur Parole, dann mindestens zur musikalischen Kulisse für den Festzug der Staatsidentität zu werden.

Ein genaueres Verständnis dieser Mechanismen am Beispiel des österreichisch-ungarischen Reiches, in dem Patriotismus eine mehrdeutige Angelegenheit war, trägt viel zu unserem Verständnis bei, wie Musik unsere kulturellen Auffassungen bis heute beeinflusst und reflektiert.

[29.5.06]
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Über den Autor
Jason S. Heilman, M.Mus, A.M., arbeitet an seinem Ph.D. in Musikwissenschaft und erlangte seinen Studienabschluss in Interdisciplinary European Studies an der Duke University in Durham, North Carolina (USA). Jason S. Heilman ist "Bachelor of Music" (Trompete) und "Master of Music". Er unterrichtete an der Musikschule an der University of Texas, Austin, und hatte Auftritte mit Symphonieorchestern in den USA. Im Jahr 2005/2006 ist Jason S. Heilman Duke/IFK_Junior Fellow mit dem Projekt "Militärmusik, Public Spectacle, and Cultural Identity in the Austro-Hungarian Empire."

Mit der Vergabe von Junior Fellowships fördert das IFK Dissertanten (bis zum 35. Lebensjahr) mit kulturwissenschaftlichen Projekten. IFK_Junior Fellowships werden für ein Jahr vergeben, beinhalten ein monatliches Stipendium und einen Arbeitsplatz am Institut, der den Austausch mit den Senior und Research Fellows des Instituts befördert. Junior Fellowships werden vorzugsweise an österreichische Studierende vergeben. Die nächste Ausschreibung ist im Oktober 2006.
->   Alle IFK-Beiträge in science.ORF.at
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01.01.2010