News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Leben 
 
Evolution im Joghurtbecher  
  Seit ein paar tausend Jahren ist bekannt, dass man aus Milch und Bakterien leicht verdauliches Joghurt herstellen kann. Aus Sicht der Mikroben eine lange Zeit: Französische Genetiker haben nun herausgefunden, dass sich im Joghurt lebende Milchsäurebakterien in einer stürmischen Evolutionsperiode befinden.  
Wie ein Team um Maarten van de Guchte vom südwestlich von Paris gelegenen Forschungsinstitut INRA berichtet, ist das Erbgut von Lactobacillus bulgaricus seit seinem ersten Einsatz in der Milchwirtschaft massiv geschrumpft. Dabei verlor es - wenig überraschend - vor allem solche Gene, die für das Überleben in der Milch nicht notwendig sind.
...
Die Studie "Complete genome sequence of Lactobacillus bulgaricus" von M. van de Guchte et al. erscheint bis zum 2. Juni 2006 auf der Website der "Proceedings of the National Academy of Sciences" (doi: 10.1073_pnas.0603024103).
->   Zur Studie (sobald online)
...
"Dicke Milch"
Vermutlich waren die Thraker die ersten, die Milch zu dem machten, was wir heute als Joghurt bezeichnen. Das kam so: Thrakische Reiter, die etwa im fünften vorchristlichen Jahrhundert auf der Balkan-Halbinsel lebten, führten Lammfellsäcke mit sich, die sie mit Milch füllten und um den Körper ihrer Pferde banden. Die Säcke waren freilich nicht keimfrei - die darin enthaltenen Bakterien vermehrten sich vielmehr bestens, da das Milieu in den Säcken warm und lebensfreundlich war.

Resultat: Die Milch wurde durch den Stoffwechsel der Mikroben säuerlich und dickte ein. Genau das bedeuten auch die Wörter "jog" und "urt" in der Sprache der Thraker, nämlich "dicke Milch".
Mikrobe aus bulgarischem Joghurt
Heute weiß man, dass bei diesem Prozess vor allem Milchzucker via Fermentation in Milchsäure umgewandelt wird und Proteine durch die Ansäuerung denaturieren. Verantwortlich dafür ist u. a. die Bakterienart Lactobacillus bulgaricus, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem ukrainischen Biologen Ilja Iljitsch Metschnikow aus bulgarischem Joghurt isoliert wurde.

Sie hat, seit sie mehr oder weniger zufällig in den thrakischen Lammfellsäcken mit Milch in Kontakt kam, eine weite Reise hinter sich gebracht - geografisch wie naturgeschichtlich. Geografisch insofern, als Joghurt als Lebensmittel einen Siegeszug um die ganze Welt angetreten hat und heute von New York bis Neusiedl gerne gegessen wird.

Interessanter ist die naturgeschichtliche Perspektive: Denn Lactobacillus bulgaricus war ursprünglich für das Leben in pflanzlicher Umgebung adaptiert und stolperte vor ein paar tausend Jahren förmlich in ein Schlaraffenland, in dem Fette, Zucker und Proteine im Überfluss vorhanden waren - und heute noch sind. Man darf daher man vermuten, dass es beim Wechsel in das Ökosystem "Milch" zu einem Anpassungsprozess kam, der im Erbgut der Milchsäurebakterien Spuren hinterlassen hat.
Evolutionäre Momentaufnahme

Ein These, die nun ein Team um Maarten van de Guchte vom Forschungsinstitut INRA überprüft hat. Die INRA-Forscher sequenzierten das komplette Erbgut des Bakteriums (Bild rechts) und suchten daraufhin im Meer der 1,86 Millionen genetischen Buchstaben - d.h.: DNA-Basenpaaren - nach bekannten Genen und deren Funktion.

Das Bild, das sich den Genetikern bot, bestätigte die Vermutung voll und ganz: Was im Erbgut von Lactobacillus bulgaricus vor sich geht, ist evolution in action, und zwar in Reinkultur. Beispielsweise weist das Genom der Mikrobe einen außerordentlich großen Anteil an Pseudogenen auf, was darauf hinweist, dass ehemals wichtige Gene durch Mutationen zerstört wurden und jetzt ein Dasein als funktionslose Anhängsel fristen.

So gibt es etwa in den Zellen Transportsysteme für Milch-, Trauben- und Fruchtzucker, jene für andere Zuckerarten sind hingegen nur mehr in Fragmenten erhalten. Ähnlich verhält es sich mit dem Proteinstoffwechsel: L. bulgaricus kann viele Aminosäuren nicht mehr selbständig herstellen, sondern bedient sich einfach in der nährstoffreichen Umgebung.

Das Bakterium tut das durch ein Enzym, das die Milchproteine in seine Bestandteile, die Aminosäuren, zerlegt und so verwertbar macht. Die Abhängigkeit geht so weit, dass es sich ohne das Enzym nicht mehr vermehren kann (Journal of Bacteriology 178, 3059).
Geschrumpftes Erbgut
Einen weiteren Hinweis, dass sich die Mikrobe in einer Phase rapider Entwicklung befindet, fanden die Genetiker bei den so genannten tRNA-Genen. Deren Zahl steht normalerweise in einem relativ stabilen Verhältnis zum Gesamtumfang des Erbguts, nur L. bulgaricus schert hier offenbar aus: Nach Adam Riese sollten sich in einem Genom mit 1,86 Millionen Basenpaaren etwa 50 tRNA-Gene finden, tatsächlich sind es rund zweimal so viele.

Einzige Erklärung: Das Genom von L. bulgaricus ist in letzter Zeit stark geschrumpft. Das entspricht auch den Vorhersagen der so genannten Stromlinien-Hypothese, der zufolge Bakterien laufend genetischen Ballast abwerfen, damit sie sich schneller als die Konkurrenz vermehren können. Eine Strategie, die insbesondere unter den üppigen Lebensbedingungen in der Milch Sinn macht.

Robert Czepel, science.ORF.at, 31.5.06
->   Institut National de la Recherche Agronomique
->   How does L. bulgaricus work on milk to make yogurt?
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Magen ist ein Tummelplatz für Bakterien (3.1.06)
->   Bakterienvielfalt viel größer als gedacht (26.8.05)
->   Bakterien-Genom: Klein, aber rein (19.8.05)
->   "Milch-Gene": Koevolution bei Mensch und Kuh (24.11.03)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Leben 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010