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Eliten-Forscher: Leistung lohnt sich nicht  
  "Leistung lohnt sich", wird von Vertretern der gesellschaftlichen Eliten gerne erzählt. Dass dem nicht so ist, weiß der deutsche Soziologe Michael Hartmann: Soziale Positionen werden ihm zufolge zum überwiegenden Teil vererbt und nicht erarbeitet.  
Trotz der Bemühungen in den 1970er Jahren sozialen Aufstieg zu erleichtern, blieben die Schlüsselpositionen der Gesellschaft in der Hand einer kleinen Oberschicht. Ein Normalsterblicher hat bis heute kaum eine Chance in so eine hohe Position zu kommen, meint der Eliten-Forscher von der TU Darmstadt.

Dass jeder die gleichen Chancen hat, hält er für "Wunschdenken". Hartmann war vor kurzem Gast zweier Veranstaltungen in Wien, die sich dem "Der Mythos der Leistungseliten" widmeten.
Hälfte der Doktoren aus 3,5-Prozent-Schicht
Die Hälfte aller Promovierten stammt laut Hartmann aus den "oberen" dreieinhalb Prozent der Bevölkerung. Das sind v.a. leitende Angestellte, hohe Beamte, Freiberufler und Selbständige.

Bei der Besetzung von Spitzenpositionen komme es unter den Doktoren noch einmal zu einer "massiven sozialen Selektion". Um diese zu untersuchen hat Hartmann zwei Klassen gebildet: Promovierte, deren Väter leitende Angestellte waren, und jene mit einem Arbeiter als Papa.

Die Wahrscheinlichkeit, in die erste Führungsebene eines der 400 größten deutschen Unternehmen zu kommen, ist für erstere zehnmal größer - "selbst wenn sie in der gleichen Zeit, im selben Fach, an den selben Unis mit den gleichen Auslandssemestern promoviert haben", betont Hartmann gegenüber science.ORF.at. Nimmt man die Söhne von Geschäftsführern oder Vorstandsmitgliedern, sei die Chance sogar 17 Mal höher.
Großbürgerliche Vorstandsvorsitzende
Während sich diese Resultate auf eine Studie zu den Promotionsjahrgänge von 1955 bis 1985 und den Berufslaufbahnen bis zur Mitte der 90er Jahre beziehen, hat Hartmann 2005 eine neue Untersuchung vorgenommen.

Das Ergebnis: Bei den 100 größten deutschen Unternehmen hat sich seit den 70er Jahren nichts an der sozialen Zusammensetzung verändert. 85 Prozent der Vorstandsvorsitzenden stammen aus bürgerlichem oder großbürgerlichem Milieu.

Die einzige Veränderung betrifft den Anteil der Großbürgerkinder, der von 45 auf 50 Prozent gestiegen ist, d.h. jeder zweite Vorstandsvorsitzende stammt aus Familien von Geschäftsführern, Vorstandsmitgliedern oder hohen Beamten.
Status-Reproduktion v.a. in der Wirtschaft
Bei der Besetzung von Spitzenpositionen habe es bis vor kurzem noch Unterschiede in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen gegeben.

Während in der Wirtschaft die Selbstreproduktion des gehobenen Bürgertums immer schon vortrefflich funktionierte, stammte der Großteil der Elite in der Politik laut Hartmann aus dem Kleinbürgertum. Klassische Vertreter seien mittlere und kleine Beamte gewesen.

Diese Tendenz habe sich in den vergangenen zehn Jahren aber drastisch verändert. In den großen Volksparteien gebe es eine massive Verbürgerlichung.
Politik nähert sich Ökonomie an
"Das hängt mit der massiven Erosion ihrer Mitglieder zusammen, die in den vergangenen 20 Jahren über ein Drittel verloren haben. Quereinsteiger und schnelle Karrieren werden dadurch häufiger und das begünstigt Kinder aus bürgerlichen Verhältnissen," so Hartmann.

Die Politik nähere sich dadurch den anderen gesellschaftlichen Bereichen an, rund zwei Drittel Bürgerkinder gebe es heute in der Politik.

Wo sich persönliche Leistung noch am ehesten lohnt, sei der Sport. Allerdings habe dieser nichts mit Eliten zu tun, meint Hartmann, denn dazu fehle ihm die "Eigenschaft, auf gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblichen Einfluss nehmen zu können".
Mittlere Hierarchieebenen sind offener
Die Bemühungen um einen offeneren Hochschulzugang der 70er Jahre haben in den absoluten Spitzenpositionen der Gesellschaft also kaum gefruchtet.

Auf den Ebenen darunter kam es aber sehr wohl zu Veränderungen. Z.B. ist der Anteil der Promovierten aus der "Normalbevölkerung", also aus den "unteren" 96,5 Prozent, bei dem Jahrgang 1985 im Vergleich zu den Jahrzehnten davor von 48 auf 60 Prozent gestiegen.

Auf den mittleren Hierarchieebenen finden sich daher auch mehr Menschen dieser sozialen Herkunft als früher, nur "ganz nach oben" schaffen es die wenigsten.
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Buch-Hinweis
Michael Hartmann: Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft. Campus Verlag 2002
->   Das Buch im Campus Verlag
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Entscheidend: Die "richtige" Persönlichkeit
Warum das so ist, liegt nicht am formalen Bildungsabschluss, sondern an etwas, das man kaum lernen kann: die "richtige" Persönlichkeit.

In der Wirtschaft etwa gebe es vier unausgesprochene, persönlichkeitsbezogene Kriterien, die zur Auswahl bei Neueinstellungen verwendet werden: entsprechendes Äußeres, Allgemeinbildung, Risikofreude und Souveränität.
Die vier Kriterien: Äußeres, Bildung ...
Äußerlichkeiten wie passende Kleidung und Verhalten seien mit entsprechenden Benimmkursen noch relativ einfach zu lernen. Auch eine möglichst breite Allgemeinbildung im bildungsbürgerlichen Sinne und der dazu passende "gute Geschmack" ist - zumindest für die Kinder von Aufsteigern - zu erwerben.

Bei der Risikofreude ist das schon viel schwieriger, die laut Hartmann "natürlich größer ist, wenn man über ein familiäres Netz verfügt, und nicht fürchten muss, dass jedes finanzielle Risiko das Ende bedeutet, wie bei Aufsteigern."
... Risikofreude und Souveränität
Das vierte Kriterium hält Hartmann für das wichtigste und nicht erlernbar: Souveränität - die Fähigkeit, mit allen Anforderungen gelassen und ruhig umgehen zu können. "Man muss in der Lage sein zu sagen: 'Ich kenn das alles, weil ich das als Kind schon gesehen habe.' Und ich weiß auch um die Spielräume, die ich habe, um gegen gewisse Gesetze zu verstoßen - das ist sozusagen meine Duftnote."

Diese Kriterien geben laut Hartmann letztlich für die Personalverantwortlichen den Ausschlag, "weil sie durch sie erkennen, das ist einer von uns". Sie sorgen auch dafür, dass soziale Aufsteiger in der Regel im mittleren Management hängen bleiben, weil sie genau diese Eigenschaften nicht haben.
Eliten-Glaube und -Lügen
Bleibt die Frage, warum die Rede von der individuellen Aufstiegschance so verbreitet ist, obwohl objektive Tatsachen sehr dagegen sprechen. "Die meisten wissen, dass die sozialen Aufsteiger eine sehr kleine Minderheit sind. Dennoch glaube ich, dass der Spruch 'Jeder kann es schaffen' in den Köpfen derjenigen, die aus dem bürgerlichen Milieu stammen, tief verwurzelt ist. Auch sie glauben, sie haben viel geleistet, was ja auch nicht immer falsch ist", meint Hartmann.

Es gebe aber auch Gegenbeispiele, wo von Seiten der Eliten bewusst gelogen werde: Etwa der ehemalige Siemens-Vorstandsvorsitzende Heinrich von Pierer, der in einem Abschiedsinterview erklärt hat, dass der "internationale Markt" verantwortlich dafür sei, warum die Managergehälter so hoch sind.

Hartmann dazu: "Alle wissen, dass das nicht stimmt. Es gibt keinen internationalen Markt für Spitzenmanager. Laut unseren Untersuchungen ist der Anteil ausländischer Spitzenmanager in Deutschland immer noch sehr gering, wenn, dann handelt es sich um Schweizer oder Österreicher. In anderen Ländern ist das genauso."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 7.6.06
->   Michael Hartmann, TU Darmstadt
 
 
 
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01.01.2010