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Vergangenheitsbewältigung nach dem Kommunismus  
  Nach 1989 mussten sich die post-kommunistischen Gesellschaften dem schwierigen Prozess der Vergangenheitsbewältigung stellen. Entscheidend für die Bildung einer neuen Identität war dabei die "Transitional Justice". Diese Prozesse des Übergangs versprachen Wahrheitsfindung, resultierten aber häufig in der Schaffung einer möglichst "angenehmen" Realität, meint die ungarische Politikwissenschaftlerin Csilla Kiss in einem Gastbeitrag. Sie untersucht die "Transitional Justice" derzeit am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM).  
Transitional Justice und die post-kommunistische Identität

Von Csilla Kiss

Nach dem Niedergang autoritärer Regime, nach Okkupationen, Bürgerkriegen und ethnischen Konflikten sind Gesellschaften mit dem Problem konfrontiert, wie diese Vergangenheit bewältigt werden kann - und damit auch das eigene Verhalten, etwa unter dem ehemaligen Regime.

Europas Staaten haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg damit befassen müssen, nach 1989 begann dieser Prozess für die osteuropäischen Staaten aufs Neue. Im Kontext der Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit ist der Terminus Transitional Justice von großer Bedeutung.
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Konferenz am IWM
Csilla Kiss hat im Fach Politikwissenschaft an der McGill University in Montreal dissertiert. Sie ist von Jänner bis Juni 2006 als Bosch Junior Visiting Fellow am IWM zu Gast und arbeitet an einem Forschungsprojekt unter dem Titel "We Are Not Like Us: Transitional Justice and Post-Communist Memory".

Am 8. Juni stellt sie ihre Arbeit zum hier skizzierten Thema im Rahmen der "Junior-Visiting-Fellows-Konferenz" (10:00 bis 17:00 Uhr in der Bibliothek des Instituts) vor.
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
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Zwischen gestern und morgen
Mit Transitional Justice werden zahlreiche Prozesse (rechtlicher oder anderer Natur) bezeichnet, die sich mit folgender Frage beschäftigen: Was soll mit ehemaligen Eliten, Kollaborateuren oder Tätern geschehen, die sich Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben?

Man unterscheidet zwei grundlegende Formen: rückwirkende Maßnahmen und das so genannte Screening/Lustration. Andere Ansätze beinhalten beispielsweise Wahrheitskommissionen und die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen durch die Internationale Gemeinschaft.
->   Transitional Justice (Encyclopedia of Genocide and Crimes Against Humanity)
Bestrafung der Täter
Rückwirkende Strafjustiz [retroactive criminal justice] zielt ab auf die Bestrafung mittels juristischer Methoden von Tätern, die sich während der früheren Diktatur unterschiedlichster, meist aber brutaler Verbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung schuldig gemacht haben oder mit den Besatzern kollaborierten.

Dabei geht es häufig auch um Taten, die zur Zeit des früheren Regimes nicht unter Strafe standen. Die meisten Nachkriegs-Säuberungsaktionen in Europa zählen zu dieser Kategorie.
->   Retroactive legislation - Wikipedia
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Beispiel Zetenyi-Takacs-Gesetz (Ungarn)
Der bekannteste post-kommunistische Versuch war das so genannte Zetenyi-Takacs-Gesetz, das 1991 in Ungarn verabschiedet wurde. Es novellierte das Strafgesetzbuch des Landes durch Außerkraftsetzen des Gesetzes zur Verjährung - im Hinblick auf Verrat, vorsätzlichen Mord und schwere Körperverletzung mit Todesfolge, und sofern diese Taten während der Zeit der kommunistischen Herrschaft begangen und aufgrund von politischen Gründen nicht strafrechtlich verfolgt worden waren. 1993 wurde es vom Verfassungsgericht als nicht verfassungskonform zu Fall gebracht.
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Screening gegen Kollaborateure
Lustration ist der lateinische Terminus für "Reinigung". Der Begriff wurde mit der Verabschiedung des Lustrace-Gesetzes im Oktober 1991 in der Tschechoslowakei wiederbelebt. Dieser Ansatz schrieb die Überprüfung auf mögliche Kollaboration mit dem Geheimdienst (StB) vor, und zwar von Personen, die bestimmte politische oder führende Positionen innehatten.

Zielsetzung war die "Reinigung" des öffentlichen Lebens durch die Verbannung der Betroffenen aus ihrer politischen Funktion oder, in manchen Fällen, die Verweigerung einer Anstellung im öffentlichen Dienst für eine bestimmte Zeitspanne.

Zwar verabschiedeten auch andere post-kommunistische Länder zahlreiche Screening-Gesetze, doch die tschechische Version rief durch ihre Härte die größte Kontroverse hervor und wurde als potentielle Verletzung des Persönlichkeitsrechts kritisiert.
->   Lustration - Wikipedia
->   Mehr zu den tschechischen Maßnahmen (pdf-Datei)
Schaffung einer angemessenen Erinnerung
Bekannt sind vor allem die Säuberungsaktionen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die post-kommunistische Transitional Justice ähnelt diesen europäischen Anstrengungen der Nachkriegszeit:

Sie zielt ab auf Veränderungen innerhalb der politischen Elite, und will zugleich die Ablehnung des vorherigen Systems ausdrücken. Was aber noch wichtiger ist: Sie hat auch zum Ziel, eine angemessene Erinnerung sowie Narrative über die Vergangenheit zu schaffen.
Ein politischer Prozess
Transitional Justice blickt zugleich auf Vergangenheit und Zukunft: Durch die Bestrafung von Kollaborateuren oder Tätern muss das neue Regime seine Beziehung zur Vergangenheit und zugleich zu dem neuen System, das es etablieren will, definieren. Beispielsweise müssen bei der Behandlung vergangener Verbrechen demokratische Grundsätze beachtet werden.

Der Prozess ist dabei aber letztendlich ein politischer - und befasst sich mit Fragen der Identität und Geschichte.
Kommunismus: Zwei Hauptansätze
Wie die europäische Nachkriegserfahrung zeigt, ist die Konfrontation mit einer autoritären Vergangenheit und dem Verhalten einer Gesellschaft während einer solchen Zeit eine schwierige und häufig schmerzhafte Angelegenheit.

Hinsichtlich der kommunistischen Vergangenheit finden sich zwei Hauptansätze, die für unterschiedliche Erinnerungen und Interpretationen stehen.

Die Haltung der Menschen gegenüber dem Prozess der Transitional Justice hängt davon ab, wie sie auf die Geschichte und die Art des Übergangs blicken - und sie sind auch durch politische Überlegungen motiviert.
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Vergangenheitsbewältigung nach dem Zweiten Weltkrieg
Eine Analyse der Vergangenheitsbewältigung nach dem Zweiten Weltkrieg bietet etwa ein Artikel des britischen Historikers Tony Judt, Professor for European Studies an der New York University, der in "Transit - Europäische Revue", der Zeitschrift des IWM, erschienen ist.
->   Tony Judt: Europas Nachkriegsgeschichte neu denken (www.iwm.at)
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Wir sind alle verantwortlich?
Dem ersten Ansatz zufolge war jeder in gewissem Maße an der Erhaltung des Regimes beteiligt, motiviert durch unterschiedlichste Überlegungen: genuine ideologische Affinität, Opportunismus, Feigheit, Furcht, Trägheit - oder aber, einer freundlicheren Lesart folgend, das Regime war gegeben und jeder versuchte lediglich, so gut als möglich zurecht zu kommen.

Die Schlussfolgerung daraus lautet, ohne gegenseitige Schuldzuweisungen weiterzumachen. Ein gutes Beispiel dafür ist Vaclav Havels Neujahrsansprache, die er 1990 hielt. Doch dieser Ansatz gilt vielen als problematisch.
->   Vaclav Havels Neujahrsansprache (old.hrad.cz)
Kommunismus als fremdes System
Alternativ wird der Kommunismus als ein fremdes System betrachtet, das einer unwilligen Mehrheit durch eine ausländische Macht aufgezwungen wurde - unterstützt durch eine lokale Minderheit und von den meisten Menschen abgelehnt, die als Opfer betrachtet werden.

Demnach sollte es möglich und vor allem auch erstrebenswert sein, die Täter zu identifizieren und zu bestrafen (hochrangige kommunistische Funktionäre oder jene, die mit den Geheimdiensten kollaborierten).

Der Rest der Menschen kann somit von jeglicher Verantwortung frei gesprochen werden. Jene, die den Prozess der Transitional Justice unterstützen, stehen in der Regel für diesen Ansatz.
Bildung einer "post-kommunistischen Identität"
Idealerweise sollte Transitional Justice Gesellschaften dabei helfen, die Vergangenheit zu bewältigen. Ihr erklärtes Ziel ist häufig Wahrheitsfindung und die Offenlegung der Mechanismen des autoritären Regimes.
->   Ein Beispiel: Die deutsche Gauck-Behörde
"Rekonstruktion" der Vergangenheit
Doch dieser Prozess verwandelt sich oft in eine Übung zur Rekonstruktion der Vergangenheit und der Erinnerung daran entsprechend dem zweiten Ansatz, der die Mehrheit der Bevölkerung freispricht, so dass es sich komfortabler damit leben lässt.

Dabei liegt der Fokus auf dem Herausgreifen der Schuldigen und auf der Evozierung von Opfertum und Widerstand. Damit soll zugleich das Fehlen einer Revolution kompensiert werden. Mit anderen Worten: Statt Wahrheitsfindung handelt es sich häufig um eine Wahrheitsschaffung.
Wir sind nicht wie sie?
Die post-kommunistischen Gesellschaften wollten mit der Vergangenheit und ihren Praktiken brechen. Doch Transitional Justice ruft häufig Erinnerungen an den Kommunismus wach, denn sie wird auch für politische Manipulationen missbraucht; etwa, um sich eines Opponenten zu entledigen, einen Sündenbock für wirtschaftliche oder politische Probleme zu finden (oder vielleicht eher zu schaffen) oder aber einfach dazu, die Aufmerksamkeit von aktuellen Schwierigkeiten abzulenken.

Mitunter erinnern die dabei verwendeten Methoden an die kommunistische Vergangenheit, wie etwa das Beispiel Jan Kava zeigt, das zu den kontroversiellsten Lustrace-Fällen zählt.

Der Sohn des früheren tschechoslowakischen Diplomaten Pavel Kavan, der in Verbindung mit dem Slansky-Prozess (1952) sechs Jahre im Gefängnis verbrachte, war beteiligt an der Publikation und Verbreitung von Samizdat-Literatur und gründete die Palach Press in London.
->   Informationen zum Slansky-Prozess (www.radio.cz)
Der Kollaboration beschuldigt
Er kehrte nach der "Samtenen Revolution" zurück und wurde in das tschechische Parlament gewählt. Auf Basis des Lustrace-Gesetzes wurde er der Kollaboration beschuldigt, obwohl die Beweise gegen ihn trivial und fragwürdig waren.

Kavan begann eine nationale und internationale Kampagne, um seinen Namen rein zu waschen. Er war letztendlich erfolgreich, doch viele nahmen ihm sein Vorgehen übel - und behaupteten, er habe damit den Ruf der Tschechoslowakei ernsthaft beschädigt.

Wie er selbst später erzählte, gaben ihm einige Freunde den Rat, seinen Fall "um unserer fragilen Demokratie willen" trotz seiner Unschuld zu akzeptieren, statt den gesamten Prozess in Frage zu stellen. "Ich wusste, wie mein Vater sich gefühlt haben musste", schreibt Kavan darüber.
->   Mehr zu Pavel Kavan (Teil I, www.radio.cz)
->   Mehr zu Pavel Kavan (Teil II, www.radio.cz)
Fehlen einer ehrlichen Konfrontation
Erinnerungen wie diese könnten für zahlreiche Kontroversen verantwortlich sein - und für eine wachsende Abneigung gegenüber Transitional Justice.

In Folge wird häufig eine ehrliche Konfrontation mit den Jahrzehnten der kommunistischen Herrschaft verhindert, eine Auseinandersetzung mit ihren Schrecken ebenso wie mit den täglichen Kompromissen.

[7.6.06]
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Konferenz-Papers online in www.iwm.at
Die IWM-Konferenz, in deren Rahmen Csilla Kiss ihre Arbeit präsentiert, findet regelmäßig am Ende eines jeden Semesters statt. Die Papers der teilnehmenden Junior Visiting Fellows werden anschließend online auf der Website des IWM publiziert.
->   Die bisher erschienenen Konferenzen im Überblick (www.iwm.at)
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01.01.2010