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Wie das Gehirn zwischen Sprachen wechselt  
  Bilinguale Menschen verwenden für ihre beiden Muttersprachen nur ein Netzwerk im Gehirn. Trotzdem können sie innerhalb kürzester Zeit von einer in die andere Sprache überwechseln. Britische Forscher haben nun herausgefunden, dass das Gehirn für solche linguistischen Übertritte ein gesondertes Signal bereitstellt.  
Verantwortlich dafür ist das so genannte Caudatum, wie ein Team um Cathy Price vom University College London in einer Studie schreibt.
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Die Studie "Language Control in the Bilingual Brain" von J. Crinion et al. erschien in "Science" (Bd. 312, S. 1537-9; doi: 10.1126/science.1127761).
->   Abstract
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Zwei Sprachen - ein Netzwerk
Während sich unsereins mit Stotterfranzösisch oder gebrochenem Englisch - der wahren internationalen Sprache - behelfen muss, können bilinguale Menschen das Thema Zweitsprache etwas entspannter angehen. Kein Wunder, sie haben ja bereits zwei.

Dass sie sich in ihren beiden Muttersprachen so souverän und natürlich bewegen, wie andere in einer einzigen, äußert sich unter anderem daran, dass sie nach Belieben von einer in die andere wechseln können, wenn nötig auch mitten im Satz.

Aus Sicht des Gehirns ist das keine Kleinigkeit: Es muss nämlich die gehörten oder gelesenen Wörter der richtigen Sprache zuordnen, selbst Wörter in der betreffenden Sprache herstellen und zugleich den Einfluss der zweiten Muttersprache hintanhalten. Intuitiv würde man erwarten, dass dabei zwei verschiedene Netzwerke von Neuronen tätig sind, von denen jeweils eines aktiviert bzw. unterdrückt wird.

Das trifft aber offenbar nicht zu. Studien an bilingualen Menschen haben gezeigt, dass sie für beide Muttersprachen die gleichen Hirnzentren verwenden. Anders ausgedrückt: Man kann anhand der Erregungsmuster im Gehirn nicht erkennen, welche der beiden Sprachen gerade gesprochen wird.
Der Priming-Effekt
Was die Sache noch rätselhafter macht: Wie "weiß" das Gehirn, ob es etwa gerade Deutsch oder Englisch spricht? Dieser Frage ging nun ein Team um Cathy Price vom Wellcome Department of Imaging Neuroscience in London nach. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung war ein Phänomen, das aus der Literatur als Priming-Effekt bekannt ist.

Dabei geht es im Wesentlichen darum, dass psychologische Tests oft kontextabhängig sind, weil sie einander beeinflussen. Ein Beispiel: Beim semantischen Priming macht es etwa einen Unterschied, ob jemand die Wortfolge "Forelle - Dachs" oder "Forelle - Lachs" präsentiert bekommt, weil die letzten beiden Wörter eine äußerst ähnliche Bedeutung aufweisen.

Wird nun ein Proband angewiesen, möglichst schnell auf die Bedeutung des zweiten Wortes zu reagieren, dann schneidet er in der Regel bei der Kombination "Forelle - Lachs" besser ab. Der Grund: Begriff Nummer eins löst bereits eine unterschwellige Aktivierung aus, die sich auf das zweite Wort auswirkt.
->   Semantisches Priming - Wikipedia
Priming unabhängig von Bilingualität
Genau solche Versuche führten Cathy Price und ihre Mitarbeiter an bilingualen Probanden aus, deren Muttersprachen Deutsch/Englisch bzw. Japanisch/Englisch waren. Allerdings variierten sie die Tests insofern, als sie neben einsprachigen Wortfolgen auch gemischte zuließen, also etwa "Forelle - salmon", "trout - Haus" usw.

Das Ergebnis: Der Priming-Effekt tritt offenbar ganz unabhängig von der aktuell verwendeten Sprache auf. Versuche mit bildgebenden Methoden bestätigten nebenbei, was Cathy Price bereits im Jahr 1999 herausgefunden hatte: Der linke Temporallappen ist, wenn man so will, das Zentrum des semantischen Primings - zumindest ist das jene Region, die regelmäßig auf die Darbietung bedeutungsähnlicher Wortfolgen reagiert (NeuroImage 9, 516).
Aufleuchten im Caudatum
Überraschend war indes folgender Fund: Eine Gehirnregion der linken Hemisphäre namens Caudatum reagierte bei den Versuchen durchaus eigenwillig. Sie leuchtete auf den Gehirnbildern nur dann auf, wenn die Wortfolgen zweierlei Bedeutungen aufwiesen oder von verschiedenen Sprachen stammten. Bei gleichen Sprachen bleib es dort hingegen dunkel.
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Anatomischer Exkurs: Würde man das Gehirn halbieren, die Brücke, den Temporallappen und das Zwischenhirn entfernen, dann könnte man das Caudatum auf der Innenseite der jeweiligen Hemisphäre sehen. Für alle, die es etwas weniger genau wissen wollen: Das Caudatum liegt in der Nähe jener Hohlräume, die man Ventrikel nennt.
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Linguistisches Kontrollsignal
Das kann in zweierlei Hinsicht gedeutet werden: Entweder befinden sich im linken Caudatum zwei Gruppen von Nervenzellen, die selektiv auf verschiedene Sprachen reagieren, oder aber es handelt sich immer um die selben Neuronen, die den Wechsel von einer Sprache zur anderen signalisieren.

Cathy Price und ihre Kollegen durchforsteten die Literatur nach Hinweisen in dieser Angelegenheit - und wurden fündig: Im Jahr 2001 publizierte eine italienische Forschergruppe einen Bericht über eine dreisprachige Patientin, deren Caudatum beschädigt war. Tests zeigten, dass sie Bilder trotz ihrer Beeinträchtigung relativ gut benennen konnte, dabei jedoch spontan von einer Sprache in die andere verfiel.

Das spricht dafür, dass die zweite Hypothese zutrifft: Das linke Caudatum ist offenbar "eine lexikalisch-semantische Kontrollinstanz", folgern Price und Kollegen im typischen Neurolinguistenjargon. Otto Waalkes hätte das vermutlich so ausgedrückt: "Caudatum an alle, Caudatum an alle: Broca und Wernicke - ihr haltet mal für einen Augenblick die Luft an. Wir wechseln ab sofort in den neuen Sprachmodus!"

Robert Czepel, science.ORF.at, 9.6.06
->   Website von Cathy Price
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01.01.2010