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Altmodisch global: Die Marke Deutschland  
  Mit der Fußball-WM versucht sich Deutschland als weltoffenes, kreatives und "normales" Land zu präsentieren. Die offizielle Politik inszeniert die "Marke Deutschland", in der sich die Kraft eines Global Player der Wirtschaft mit einem alten Nationalismus verbindet. Der deutsche Politologe Claus Leggewie hält diese Inszenierung für sehr altmodisch - und die Bemühungen seiner Landsleute nach wie vor für verkrampft.  
Claus Leggewie, Direktor des Zentrums für Medien und Interaktivität der Universität Gießen und derzeit als Körber-Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen, weiß, wovon er spricht.

Einerseits beschäftigt er sich seit Jahren mit Globalisierung, politischer Kommunikation und Erinnerungskulturen. Andererseits war er selbst fußballerisch aktiv - bis zu seinem 15. Lebensjahr als Torwart in der Jugend des 1. FC Köln.
Claudia Schiffer in Schwarz-Rot-Gold
Bild: EPA
Claudia Schiffer
Vor wenigen Tagen präsentierte das deutsche Topmodel Claudia Schiffer in London Bilder, auf dem sie nackt, einzig mit einer Deutschlandfahne abgelichtet war. Sinn des Ganzen: zu zeigen, dass auch Deutschland mittlerweile "unverkrampft und originell" mit seiner nationalen Identität umgehen kann - und nicht zuletzt um für Investitionen in Deutschland zu werben.

Claus Leggewie hält dieses Beispiel für typisch und kontraproduktiv: "Verkrampft daran ist, dass es die Meinung gibt, dass man das Verhältnis entkrampfen muss. Die Deutschen haben immer das Gefühl, sich noch mehr lockern zu müssen. Das kann erst recht zu Krämpfen führen, eine auch sporttherapeutisch schlechte Strategie."

Schiffer stehe mit ihren blonden Haaren, blauen Augen und ihrem wirtschaftlichen Erfolg beispielhaft für die "Marke Deutschland" und sei Ausdruck einer "peinlichen Konfusion von Wirtschaft, Sportsystem und Politik".
Gefahren der Überkommerzialisierung
Dass die Fußball-WM prinzipiell zur Inszenierung auch außer-sportlicher Inhalte verwendet wird, ist nach Ansicht von Leggewie selbstverständlich. "Sport war immer Event-Kultur und immer ein Vorreiter in dieser Hinsicht."

Aber: Die Balance zwischen den Bedürfnissen echter Fans - "denen, die in der Kurve stehen" - und dem transnationalen Medienereignis sei mittlerweile schwer gestört.

Laut Leggewie tut es dem Fußball nicht gut, wenn die Spiele in erster Linie von den Vorstandsetagen großer Unternehmen "und anderen Fußballbanausen" besucht werden, die Massenspektakel eigentlich verachten und nur wegen dem Catering "Adabeis" sind. Die Kartenvergabe zur WM sei in diesem Sinne hochkorrupt erfolgt.
Der WM-Titel von 1954 ...
Dass es Überschneidungen von Sport und Politik gibt, ist seit langem bekannt. Ein klassisches Beispiel für den Beitrag des Fußballs zur Bildung nationaler Identität ist der WM-Titel Deutschlands 1954.

Die Verfilmung des Finales Deutschland-Ungarn mit dem Titel "Das Wunder von Bern" von 2003 hält Leggewie zwar für handwerklich gelungen, "dass die WM wie vielfach behauptet aber das Ereignis zur Nationenbildung war, ist stark übertrieben".
... ein "retroaktiver Nationsbildungsmythos"
Der Film sage mehr über die Bedürfnisse zur Nationsbildung der Zeit aus, in dem er gedreht wurde, als dass er eine historiographische Studie sei. Für den Erforscher von Erinnerungskulturen sei dies freilich keine Überraschung: "Das ist immer so. Mythen, die immer ein Körnchen Wahrheit beinhalten, verselbständigen sich und haben sehr reale Konsequenzen."

Die 50er Jahre eignen sich da besonders als Körnchen Wahrheit, denn sie sind rückblickend zur "Messlatte für den Erfolg der deutschen Gesellschaft geworden".

Die Aufbau- und Wirtschaftswunderjahre wirken als Antidepressivum für die Gegenwart, die Verfilmung des Fußballerfolgs wurde zum "retroaktiven Nationsbildungsmythos".
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Buch-Hinweis
Von Claus Leggewie und Jürgen Schwier ist vor kurzem das Buch "Wettbewerbsspiele. Die Inszenierung von Sport und Politik in den Medien" im Verlag Campus erschienen.
->   Mehr über das Buch (Verlag Campus)
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Nationalinteresse und Global Player
Wie die einzelnen Regierungen mit dem Verhältnis Sport/Politik umgehen, da gibt es Unterschiede. "Das Wunder von Bern" hält Leggewie z.B. für ein typisches Produkt der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder.

"Die hat sich dadurch ausgezeichnet, dass erstmals unverkrampft von nationalen deutschen Interessen gesprochen wurde. Ich finde es übrigens gut, wenn man über diese offen spricht und nicht leugnet. Alle Nationalstaaten der Welt haben so etwas."

Die Strategie von Bundeskanzlerin Angelika Merkel und Bundespräsident Horst Köhler sei eine andere: Deutschland wird nun als "Marke" positioniert - und zwar nicht mehr als Sozialstaat im sozialdemokratischen Sinne, sondern als ein "Global Player".
Globalisierungsrhetorik kommt zehn Jahre zu spät
Die Bühne der Fußball-WM sei dafür ideal, die konkrete Umsetzung hält Leggewie aber für "unheimlich altmodisch und verschmockt". Die Globalisierungsfähigkeit Deutschlands zu unterstreichen, komme um gut zehn Jahre zu spät. Knapp nach der "Wiedervereinigung" hätte das vielleicht noch Sinn gemacht. Heutzutage sei die Rhetorik der Globalisierung aber selbst in den USA in Verruf geraten.

Die Bevölkerung habe mittlerweile längst verstanden, dass Deutschland davon profitiert hat - Stichwort "Exportweltmeister" oder "hochprofitable internationale Konzerne".

Sie wissen aber auch, dass sich das nicht mehr unbedingt auf die "nationalen Volkswirtschaften" und auf die Sicherheit der Arbeitsplätze niederschlägt. Überschäumende Globalisierungsrhetorik gehe an der Realität der meisten Menschen vorbei.

Kurzum: Die "Marke Deutschland" ist nach Ansicht Leggewies "ein wirtschaftsaffiner und politisch vermeintlich neutraler Versuch, so etwas wie nationale Identität zu erzeugen. Sie hebt die Nation im dialektischen Sinne auf, d.h. sie bewahrt sie und ersetzt sie zugleich."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 9.6.06
->   Claus Leggewie, ZMI Universität Gießen
->   Leggewie-Manuskript "Die ganze Welt im Ball" (SWR; rtf-Datei)
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen
 
 
 
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01.01.2010