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Moritz Schlick: 70. Todestag des "Wiener Kreis"-Begründers  
  Am 22. Juni 1936 wurde der Philosoph und Physiker Moritz Schlick von einem ehemaligen Studenten auf der "Philosophenstiege" der Universität Wien erschossen. Dieser Mord markiert das gewaltsame Ende einer der bedeutendsten philosophischen Schulen des 20. Jahrhunderts: des Wiener Kreises.  
Mit dem Versuch, moderne Logik, Naturwissenschaften und Philosophie in Einklang zu bringen, strebte der Wiener Kreis eine verspätete Aufklärung in Österreich an. Sie scheiterte am geistigen Klima des autoritären Ständestaats und am Nationalsozialismus. International wurden Schlick und seiner Mitstreiter jedoch zu Wegbereitern der modernen Wissenschaftstheorie.
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Gedenkveranstaltung an der Uni Wien
Am Donnerstag, dem 22. Juni 2006, findet um 19:30 Uhr an der Universität Wien eine Gedenkveranstaltung "In memoriam Moritz Schlick (1882-1936)" statt, die an den "Aufstieg und Untergang der wissenschaftlichen Philosophie" in Österreich erinnert. Dabei werden auch zwei neue Bände der Moritz Schlick Gesamtausgabe präsentiert.
->   Programm
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Dissertation bei Max Planck, Nachfolger Machs in Wien
Naturphilosophie, Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Ethik und Ästhetik - die philosophischen Interessen des 1882 in Berlin geborenen Moritz Schlick waren ebenso breit gefächert wie sein Ausbildungsweg.

1911 promovierte er bei Max Planck mit einer physikalischen Arbeit Über die Reflexion des Lichtes in einer inhomogenen Schicht. Dem Studium der Psychologie in Zürich folgte 1911 die Habilitation über Das Wesen der Wahrheit nach der modernen Logik an der Universität Rostock, wo er bis 1921 lehrte und forschte.

1922 übernahm Schlick als Nachfolger Ernst Machs den Lehrstuhl für Naturphilosophie in Wien. Bis zu seiner Ermordung 1936 prägte er die Entwicklung der Philosophie in Wien wesentlich mit.
Die "Verwissenschaftlichung" der Philosophie
Im so genannten "Schlick-Zirkel", der später als "Wiener Kreis" in die Philosophiegeschichte einging, trafen sich ab den frühen 20er Jahren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichsten Disziplinen - Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften.

Gemeinsames Ziel dieses Diskussionszirkels, dem unter anderem Friedrich Waismann, Rudolf Carnap, Herbert Feigel, Hans Hahn, Otto Neurath, Viktor Kraft und Kurt Gödel angehörten, war die Verbreitung einer "wissenschaftlichen Weltauffassung".

Empirische Überprüfbarkeit und Erfahrungsbezug sollten die Grundlage aller bedeutungsvollen Aussagen bilden, auch jener der Philosophie. Und, so das Ideal der stark von Ludwig Wittgensteins Sprachkritik beeinflussten Gruppe: Die verschiedenen Wissenschaften sollten sich einer gemeinsamen Basissprache bedienen.
Vom Streit der Schulen zur systematischen Vertreibung
Mit seiner radikalen Ablehnung der Metaphysik und seiner Infragestellung der Philosophie als privilegierter Wissenschaft forderte der Wiener Kreis die herkömmliche, in der Tradition Kants und der Scholastik stehende Schulphilosophie heraus - und geriet zunehmend unter Beschuss.

Theoretische Konflikte vermischten sich dabei mit rassistischen und politisch-ideologischen Motiven, wie der Wiener Zeithistoriker Friedrich Stadler, Gründer und Leiter des Instituts Wiener Kreis, gegenüber dem ORF erklärte. Viele Mitglieder des Wiener Kreises wurden alleine schon deshalb angefeindet, weil sie jüdisch waren. Die eher links-liberalen politischen Positionen vertrugen sich ebenfalls nur schlecht mit dem in Richtung Faschismus weisenden Zeitgeist. Ab den frühen 30er Jahren begann daher die - zunehmend gewaltsame - Auflösung und Vertreibung des Wiener Kreises.

Als Moritz Schlick 1936 von Hans Nelböck erschossen wurde, bedeutete dies das institutionelle Ende seiner Schule an der Universität Wien. Nelböcks Motive sind bis heute umstritten; dass die Tat jedoch wesentlich durch das politische Klima des autoritären Ständestaats befördert wurde, steht außer Frage. 1937 zu zehn Jahren Kerkerstrafe verurteilt, wurde Nelböck bereits 1938 bedingt aus der Haft entlassen und konnte nach 1945 - so der Wiener Historiker Gernot Heiss - als "unbescholtener Staatsbürger" in Wien leben.
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Zeitgenössische Reaktionen
Ein bezeichnendes Licht auf die feindliche Stimmung gegenüber Schlick und dem Wiener Kreis werfen die zeitgenössischen Pressereaktionen auf den Mord. In der "Schöneren Zukunft", einem Ständestaatsorgan, nahm ein "Prof. Dr. Austriacus" Nelböck in Schutz: Dessen Tat sei lediglich ein "katastrophenartiger Ausdruck von jener weltanschaulichen Not und Verzweiflung, in welche eine gewisse Universitätsphilosophie die akademische Jugend stürzt."
->   Projekt "Vertriebene Vernunft" - Der Fall Moritz Schlick (Dokumente)
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Erfolg im Exil - lange Verdrängung in Österreich
Nach dem Tod Schlicks gab es keine Bemühungen, seinen Lehrstuhl in seinem Sinne nachzubesetzen - auch nicht nach 1945. Während die philosophische Arbeit Schlicks und des Wiener Kreises vor allem in Großbritannien und Schweden breit rezipiert wurde, konnte in Österreich diese Richtung erst wieder über den Reimport der analytischen Wissenschaftsphilosophie in den 70er Jahren Fuß fassen.

Der Neopositivismus des Wiener Kreises und seine Orientierung an den Naturwissenschaften hat im Lauf der Zeit Kritik von unterschiedlichsten Seiten erfahren. Vor allem Karl Poppers Kritik, die Eingang in seine Theorie der Falsifikation gefunden hat, ist bekannt.

Trotz seiner Radikalisierung im Bereich der wissenschaftlichen Weltauffassung ist das Werk Schlicks nach wie vor relevant für die wissenschaftstheoretische Debatte, meint Friedrich Stadler. Schlicks Überzeugung, dass die Philosophie im Prozess der Differenzierung der empirischen Wissenschaften die Aufgabe habe, den Sinn von Aussagen und Theorien zu klären, bleibe nach wie vor aktuell.
Gedenken an Schlick und seine Ermordung lebendig
Schlicks Schriften und sein Nachlass werden derzeit in einem groß angelegten Forschungsprojekt aufgearbeitet und publiziert.

Aber auch das Gedenken an die Ermordung Schlicks ist lebendig: An der Universität Wien wurde 1993 auf Initiative von Gernot Heiss eine Inschrift an der Mordstelle auf der "Philosophenstiege" angebracht, die an das vergiftete geistige Klima der 30er Jahre erinnern soll.

Und wie der Schlick-Mord die Rockmusikerin Patti Smith künstlerisch inspiriert hat, kann man bei der Gedenkveranstaltung am 22. Juni 2006 an der Universität Wien erleben.

Martina Nußbaumer, science.ORF.at/Ö1, 22.06.06
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Radio-Hinweis
Das Ö1-Dimensionen-Magazin widmet sich ebenfalls dem 70. Todestag von Moritz Schlick. Datum: Freitag, 23. Juni 2006, 19:05 Uhr, Radio Österreich 1.
->   oe1.ORF.at
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->   Moritz-Schlick-Projekt
->   Institut Wiener Kreis
 
 
 
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01.01.2010