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Der zerstreute Kosmos  
  Der Urknall wird üblicherweise als der Beginn von Raum und Zeit angesehen. Es gibt jedoch physikalische Theorien, die auch eine Zeit davor kennen und den "Big Bang" lediglich als Übergangsstadium zweier kosmischer Epochen betrachten. Ein deutscher Physiker hat nun so eine Theorie durchgerechnet. Das Ergebnis: Das Universum "vergisst" offenbar seine wichtigsten Eigenschaften im Verlauf des Urknalls.  
Im Anfang war der Knall
Nach den gängigen Vorstellungen begannen Raum und Zeit vor etwa 13,7 Milliarden Jahren mit dem Urknall. Das Universum soll damals unendlich heiß und unendlich dicht gewesen sein, aber keine Ausdehnung besessen haben - mathematisch gesehen ein unsinniger Zustand, eine so genannte Singularität.

Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie beinhaltet zwar solche Zustände, aber glücklich sind die Physiker damit nicht. Denn die Theorie bricht an diesem Punkt zusammen; bewegt man sich mit ihrer Hilfe in der Zeit zurück, kommt man nur bis zu einem Punkt, der Sekundenbruchteile vor dem Big Bang liegt.
Das Problem mit den Quanten
Die Allgemeine Relativitätstheorie stößt hier an ihre Grenzen. Denn das Universum war kurz nach dem Urknall so klein, dass auch das eigentümliche Verhalten von Elementarteilchen eine wichtige Rolle spielte.

Das Verhalten der Quanten muss berücksichtigt werden, um den Anfang des Kosmos - und vielleicht auch das, was dahinter lag - zu erforschen. Physiker sind schon lange auf der Suche nach einer Verbindung von Einsteins Theorie mit den Gesetzen der Quantenphysik.
"Loop Quantum Gravity" - der Ausweg?
Ein viel versprechender Ansatz ist die "Loop Quantum Gravity" (LQG). Eine mathematische Zeitmaschine, die vielleicht einen Blick in das Universum vor dem Urknall erlaubt.

Die LQG ist eine Verbindung der Quantenwelt mit der Allgemeinen Relativitätstheorie. In ihr besteht die Raumzeit aus einem Netz von winzigen Schleifen ("Loops"), die miteinander verknotet sind.
->   LQG - Wikipedia
Körniger Kosmos
Kleiner als diese Schleifen geht es nicht: Das Universum ist nicht kontinuierlich, sondern aus kleinen, unteilbaren Stücken aufgebaut - so wie eine Düne aus Millionen kleiner Sandkörner besteht.

In einem solchen, körnigen Universum gibt es keine Singularitäten. Der Kosmos ist am Anfang zwar sehr klein, aber nicht unendlich klein. Und der Urknall ist diesem Modell zufolge kein Big Bang mehr, sondern ein "Big Bounce": der große Sprung von einem alten, sich zusammenziehenden Kosmos in einen neuen, expandierenden.

Das Universum hat es demnach schon immer gegeben, es zieht sich nur immer von Neuem zusammen und dehnt sich wieder aus.
Was war vor dem "Big Bounce"?
Können wir dann auch etwas über die Zeit vor dem Urknall erfahren? Martin Bojowald von der Penn State University glaubt daran. Er hat auch schon früher Vermutungen angestellt, wie das Vorher ausgesehen haben könnte.

Frühere Berechnungen ergaben, dass im Universum vor dem "Big Bounce" alles ins Gegenteil verkehrt war. In diesem Spiegel-Universum ist die Zeitdimension negativ; Rechts und Links, Innen und Außen sind vertauscht. Daraus folgt, dass die Geschehnisse vor und nach dem "Big Bounce" gleichartig, jedoch spiegelverkehrt ablaufen. Es gäbe eine ewige Wiederkehr identischer, aber verkehrter Welten.
->   Was geschah vor dem Urknall? (18.3.04)
Neues Modell ohne Spiegelwelt
Seine neuen Gleichungen liefern jedoch ein anderes Bild. Bojowald und seine Kollegen haben ihr mathematisches Modell weiterentwickelt, mit dem man auf rechnerischem Weg zurück in der Zeit gehen kann (Nature Physics, 10.1038/nphys654).

Die bizarre Welt vor dem Urknall, so schien es, war zum Greifen nahe. Doch ganz so einfach macht es der Kosmos den Physikern nicht.

Bojowald hat nämlich herausgefunden, dass wir nie alles über das vorherige Universum erfahren können. Seine Berechnungen bleiben begrenzt durch eine "kosmische Vergesslichkeit", die durch die extremen Quantenkräfte während des "Big Bounce" verursacht wird. Bojowald: "Es ist ähnlich wie die Unbestimmtheit in der Quantenphysik, bei der die Position eines Objekts und seine Geschwindigkeit komplementär sind - wenn man das eine misst, kann man nicht gleichzeitig das andere messen."

Das Universum "vergisst" Bojowald zufolge viele seiner Parameter im Lauf des "Big Bounce" - sie gehen offenbar unwiederbringlich verloren. Diese Vergesslichkeit des Universums lässt uns im Dunkeln über das genaue Aussehen des Kosmos vor dieser Zeit.

"Sogar in den Modellen, deren Gleichungen nicht zusammenbrechen, gehen Informationen über einige der elementarsten Eigenschaften des Universums praktisch verloren", sagt Bojowald.
Unterschiedliche Universen
Das schlechte Gedächtnis bewirkt auch, dass der Kosmos mit jeder Wiedergeburt seine Gestalt ändert. Weil bestimmte Eigenschaften ihre Reise durch den "Big Bounce" nicht überleben, gleicht ein neues Universum niemals dem alten.

"Die ewige Wiederkehr von absolut identischen Universen scheint von dieser kosmischen Vergesslichkeit verhindert zu werden", meint Bojowald.
Experimenteller Nachweis?
Ob die "Loop Quantum Gravity" (und damit Bojowalds Rechnung) stimmt, wird sich vielleicht durch experimentelle Tests zeigen. Anfang 2008 startet das "Gamma Ray Large Area Space Telescope", ein Gammastrahlen-Satellit. Er könnte Strahlungsunterschiede messen, die von der LQG vorausgesagt werden.

Raffael Fritz, science.ORF.at, 9.7.07
->   Das Gamma Ray Large Area Space Telescope
->   Porträt von Martin Bojowald bei nature.com
Mehr dazu in science.ORF.at:
->   Wackelt die Urknall-Theorie? (13.9.06)
->   Ask Your Scientist: Kosmische Expansion hat kein Zentrum (22.8.05)
->   Kurze Geschichte des Universums (21.7.03)
 
 
 
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01.01.2010