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Spiegeln Marktpreise wahre Werte?  
  In der neoklassischen ökonomischen Theorie wird angenommen, dass die Konsumenten ihre Vorlieben kennen und Marktpreise dementsprechend die wahre Zahlungsbereitschaft reflektieren. Diese Annahme wird aber in neuen Experimenten regelmäßig widerlegt.  
Vielleicht sollte die Institution Markt deshalb nicht so sehr mit überlegener Effizienz, sondern eher mit der Wahlfreiheit der Konsumenten legitimiert werden?
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Europäische Wissenschaftstage Steyr
"Geld, Glück und Ungeduld" ist das Thema der Europäischen Wissenschaftstage Steyr 2001 von 2. bis 5. Juli 2001, die sich mit den sozialen und psychologischen Grundlagen des Wirtschaftslebens befassen werden.

In Kooperation mit den Wissenschaftstagen Steyr und der Neuen Zürcher Zeitung bringt "science.orf.at" einen Originalbeitrag von George Loewenstein, der als Professor für Volkswirtschaftslehre und Psychologie an der Carnegie Mellon University, Pittsburgh, USA, unterrichtet.
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Psychologische Grundlagen der Ökonomie
Reflektieren Marktpreise wahre Werte?

Ein Originalbeitrag vom George Loewenstein

In einer berühmten Passage aus Mark Twains Roman Tom Sawyer steht der Protagonist vor der Situation, den Zaun seiner Tante streichen zu müssen. Da er die Schadenfreude seiner Freunde fürchtet, legt er sich einen einfachen Plan zurecht: er tut so, als würde ihm die Arbeit Spass machen.

Ein Freund nach dem anderen fällt auf Tom Sawyers List herein. Nicht nur, dass sie um Toms Platz am Zaun betteln, die Arbeit bereitet ihnen auch noch Spass. Twain schliesst daraus, dass Tom «ohne dies beabsichtigt zu haben ein bedeutendes Gesetz des menschlichen Verhaltens entdeckt hat. Um einem Mann oder einem Jungen eine Sache begehrenswert erscheinen zu lassen, muss man sie nur schwer erreichbar machen».
Markt Twain als Wirtschaftspsychologe?
Twains Anschauung steht in starkem Widerspruch zur modernen ökonomischen Theorie, die annimmt, dass die Leute eine klare Vorstellung davon haben, was sie wollen und was sie gerne mögen.

Die Preise von Konsumgütern wie Schokolade, CDs, Kinofilmen, Massagen und Ferien reflektieren demnach zu Grunde liegende «fundamentale» Werte , in diesem Fall den Genuss, den sich die Konsumenten von diesen Produkten versprechen.

Es ist jedoch kaum möglich, diese fundamentalen Werte direkt zu messen. Daher besitzt die Idee einer fundamentalen Bewertung den Status eines unbeweisbaren Glaubenssatzes.
Beliebige Bewertung der Konsumgüter
Neue Forschungsarbeiten von Dan Ariely und Drazen Prelec von der Sloan School of Business des MIT sowie von George Loewenstein von der Carnegie Mellon University legen nahe, dass dieser Glaube möglicherweise nicht gerechtfertigt ist.

Die neuen Forschungsarbeiten weisen nämlich darauf hin, dass es ein hohes Mass an Beliebigkeit in den Bewertungen sogar der grundlegendsten Konsumgüter gibt.
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Die Studie: Maus, Wein und Bonbonnieren
In einer Studie verkauften die Forscher Konsumgüter, etwa eine 100-$-teure drahtlose Tastatur, eine Computer-Maus, eine teure und eine weniger teure Flasche Wein und eine luxuriöse Bonbonnière, an Doktoranden der Betriebswirtschaft. Die Studenten bekamen immer nur ein Produkt präsentiert und wurden gefragt, ob sie dieses zu demjenigen Preis kaufen würden, der sich aus den letzten beiden Stellen ihrer Sozialversicherungsnummer zusammensetzt.

Die Sozialversicherungsnummer ist eine im wesentlichen zufällige Identifikationsnummer, die man benötigt, um in den USA einen Arbeitsplatz zu erhalten. Endete die Nummer beispielsweise mit den Ziffern 34, betrug der Preis des Produktes 34 $. Anschliessend wurden die Studenten nach dem Höchstpreis gefragt, den sie für das Produkt zu zahlen bereit wären. Bei der Befragung wurde ein Verfahren eingesetzt, das den Leuten einen Anreiz gab, ihre «wahren» Präferenzen zu offenbaren.

Die Resultate waren verblüffend. Obwohl die Studenten daran erinnert worden waren, dass ihre Sozialversicherungsnummer im wesentlichen zufällig ist, waren jene mit einer hohen Nummer bereit, deutlich mehr für die Produkte zu bezahlen. Beispielsweise bewerteten die Studenten mit einer Nummer in der unteren Hälfte der Verteilung die weniger teure Flasche Wein einen 1998er Côte du Rhône Jaboulet «Parallel 45» mit $ 11.62, während jene mit einer Nummer in der oberen Hälfte der Verteilung den Preis für dieselbe Flasche mit $ 19.95 ansetzten.
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Wie kann dann die Wirtschaft funktionieren?
Wenn Konsumenten in der Bewertung von Gütern so unsicher sind, wie kann dann die Wirtschaft als ganzes funktionieren? Ein zweiter Aspekt dieser Studie gibt einen Hinweis darauf. Die Studenten scheinen zwar wenig Verständnis für die 'wahren' Werte der verschiedenen Produkte zu haben, dafür besitzen sie aber ein übereinstimmendes Gespür für die relative Bedeutung von Produkten.
Feine Weine
So bewerteten alle Studenten unabhängig von der Sozialversicherungsnummer die feinere Flasche Wein, einen 1996er Hermitage Jaboulet «La Chapelle», höher als den Côte du Rhône. Die Studenten wussten, dass der bessere Wein mehr wert ist als der schlechtere, auch wenn ihnen nicht klar war, wie sie unterschiedliche Weine für sich bewerten sollten. Ariely, Loewenstein und Prelec bezeichnen diesen Umstand als «kohärente Beliebigkeit».

Ein Betrachter, der nur die relativen Preise der beiden Weine beobachtet, würde den voreiligen Schluss ziehen, dass sich die Konsumenten perfekt gemäss der ökonomischen Theorie verhalten.
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Nocheinmal Tom Sawyer
In einer zweiten Studie, die eine noch engere Analogie zu Tom Sawyers Geschichte darstellt, fragten die Forscher eine Gruppe von Studenten, ob sie bereit wären, gegen eine Entlohnung von 10 $ einem 10-minütigen Vortrag ihres Professors aus der Gedichtsammlung «Leaves of Grass» zuzuhören.

Eine andere Gruppe von Studenten wurde dagegen gefragt, ob sie bereit wäre, dafür 10 $ zu zahlen. Wiederum waren die Antworten der Studenten stark von der ursprünglichen Frage abhängig. Jene, die gefragt worden waren, ob sie fürs Zuhören zahlen würden, waren auch tatsächlich bereit, dafür einen Obolus zu entrichten, während jene, denen man eine Bezahlung fürs Zuhören angeboten hatte, auch wirklich bezahlt werden wollten.

Doch unabhängig davon, ob die Erfahrung des Zuhörens als positiv oder negativ eingeschätzt wurde: Für länger dauerndes Zuhören nannten die Studenten höhere Geldwerte.
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Aktien-Werte
Das Muster willkürlicher absoluter, aber kohärenter relativer Bewertungen, lässt sich nicht nur bei Konsumgütern beobachten, sondern auch in vielen anderen Bereichen der Wirtschaft. Zum Beispiel ist der «wahre» Wert von Aktien nicht eindeutig bestimmbar, was zu erklären vermag, warum Börsenbewertungen in kurzer Zeit starken Schwankungen unterliegen können.
Wie hoch ist der Dow Jones-Index?
Der Ökonom Robert Shiller (1998) schreibt dazu: «Wer wollte wissen, wie hoch der Wert des Dow Jones Industrial Index sein sollte? Ist er wirklich heute 6000 Punkte «wert»? Oder 5000 oder 7000? Oder 2000 oder 10 000? Es gibt keine allgemein anerkannte ökonomische Theorie, die diese Fragen beantworten könnte.»

Während der Gesamtwert des Marktes oder die Bewertung einer spezifischen Unternehmung also unbekannt sind, gehen die Leute wiederum vernünftig mit marginalen Änderungen um. Wenn z. B. ein Aktiensplit 2:1 beträgt, dann drücken die Investoren den Kurs auf ungefähr 50% hinunter.
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Die Wahrnehmung der Benzinpreise
Ein entscheidender Faktor für die Wahrnehmung liegt in der Geschwindigkeit einer Veränderung. Schnellere Veränderungen werden eher bemerkt. Sind sie sich aber der Veränderung nicht bewusst, dann reagieren sie, wenn überhaupt, nur schwach.

Dieser Befund könnte erklären, warum die amerikanischen Autofahrer den Aufstand proben, wenn der Benzinpreis um 30% angehoben wird, obwohl sich die Benzinpreise in den Vereinigten Staaten sowohl historisch als auch im internationalen Vergleich auf einem äusserst niedrigen Niveau befinden.
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Faktor Informationsvermittlung
Ein anderer Faktor, der einen Einfluss auf die Bewertung ausübt, ist die Art und Weise der Informationsvermittlung. Es spielt eine Rolle, ob die Preise von ähnlichen Produkten in einer vergleichbaren Form angeschrieben werden, ob man sie nacheinander erfährt, ob die Preise privat bekannt sind, oder ob sie diskutiert werden.

So reagieren Arbeiter typischerweise massiv auf eine Reduktion des Nominallohns, da der Vergleich mit ihrem eigenen früheren Lohn negativ ins Auge sticht, während sie grosse Lohnunterschiede zwischen den einzelnen Industriezweigen tolerieren.
Märkte maximieren die Wahlfreiheit
Die Wirtschaftswissenschaft beruht auf der Annahme, dass die individuellen Wahlhandlungen die wahren Präferenzen reflektieren, dass also die Wahl von A anstatt von B bedeutet, dass das Individuum mit A tatsächlich besser fährt als mit B.

Wenn jedoch die Entscheidungen der Konsumenten zu einem Grossteil willkürlich getroffen werden, dann wird die Behauptung der Ökonomen, dass freie Märkte die Wohlfahrt maximieren, stark relativiert. Es gibt vielleicht eine Rechtfertigung für freie Märkte, wenn man der Wahlfreiheit per se einen Wert zubilligt, nicht aber auf der Basis, dass freie Märkte zu einer sinnvollen Bedürfnisbefriedigung führen.

Die Institution des Marktes maximiert zwar die Konsumentensouveränität. Damit geht aber nicht notwendigerweise auch die Maximierung der Konsumentenwohlfahrt einher.

Univ. Prof. George Loewenstein,
Carnegie Mellon University, Pittsburgh, USA
->   Neue Zürcher Zeitung
Lesen Sie mehr über die psychologischen Grundlagen der Ökonomie in science.orf.at:
->   Geldillusion und Geldpolitik
->   Geld, Glück und Ungeduld
 
 
 
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01.01.2010