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Forscher finden Formel für unregelmäßige Zeitwörter  
  Die Wahrscheinlichkeit, dass ein unregelmäßiges Zeitwort zu einem regelmäßigen wird, ist umgekehrt proportional zur Quadratwurzel seiner Häufigkeit. Diese Formel hat ein Team um den aus Österreich stammenden und an der Harvard University forschenden Evolutionstheoretiker Martin Nowak aus der Analyse der englischen Sprache destilliert. Entsprechend ihrer wissenschaftlichen Herkunft sprechen die Forscher auch davon, dass Wörter wie Gene oder Organismen einer natürlichen Selektion unterworfen sind.  
Unregelmäßige Verben sind bei der Bildung der Vergangenheit einem Anpassungsdruck hin zur Regelmäßigkeit unterworfen. Wie schnell sie auf diesen Druck reagieren, haben Martin Nowak und seine Kollegen berechnet.

Sie geben auch einen Tipp ab, welches Verb als nächstes zur Regelmäßigkeit übergehen wird: "wed", englisch für heiraten, wird demnächst "wed-wedded-wedded" konjugiert werden anstatt wie bisher "wed-wed-wed".
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Die Studie "Quantifying the evolutionary dynamics of language" ist am 11. Oktober 2007 in "Nature" erschienen (Band 449, S. 713-716, doi: 10.1038/nature06137).
->   Zum Abstract
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Zusammenhang Häufigkeit und Irregularität
Bild: Nature
Das "Nature"-Cover zum Thema
Sprache basiert auf grammatikalischen Regeln, die nicht ewig gleich bleiben, sondern sich ändern können: Neue Regeln entstehen, alte sterben aus.

Um der Dynamik hinter diesen Veränderungen auf den Grund zu gehen, griffen die Evolutionstheoretiker unregelmäßige Verben und ihre Veränderungen während der letzten 1.200 Jahre heraus.

Im modernen Englisch wird die Vergangenheit durch die Endung -ed ausgedrückt - wie aber jeder Schüler weiß, gibt es zahlreiche Ausnahmen:

"Er sah" heißt im Englischen "he saw" und nicht "he seed". Oder "sie ging" heißt "she went" und nicht "she goed".
Unregelmäßig, aber sehr häufig
177 solch unregelmäßige Verben gab es im Altenglisch, im Mittelenglisch waren es noch 145, derzeit befinden sich noch 98 derartige Zeitwörter im englischen Wortschatz. Die Forscher griffen den Zusammenhang zwischen der Häufigkeit, mit der ein Wort gebraucht wird, und der Irregularität heraus.

Denn interessanterweise sind nur drei Prozent der Verben unregelmäßig, dafür befinden sich unter ihnen aber die am meisten gebrauchten: "be", "have", "do", "go", "say", "can", "will", "see", "take" und "get".
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Starke und schwache Verben im Deutschen
Im Deutschen werden wie im Englischen starke (also hinsichtlich ihrer Konjugation unregelmäßige) und schwache (regelmäßige) Verben unterschieden: Bei den starken Zeitwörtern wechselt der Stammvokal bei der Bildung der Vergangenheit und des Partizips: gehen - ging - gegangen, treffen - traf - getroffen. Bei schwachen Verben werden Vergangenheit und Partizip durch Anfügen eines -t(e) gebildet: machen - machte - gemacht, fühlen - fühlte - gefühlt. Auch im Deutschen werden die starken Zeitwörter häufig zu schwachen: Beispielsweise wird immer öfter anstatt "entglitt" "eingleitete" formuliert. Oft handelt es sich dabei zuerst um umgangssprachliche Formen, die nach und nach in die Hochsprache eindringen.
->   Liste der starken Verben im Deutschen (Wikipedia)
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Formel für die "Konvertierung"
Martin Nowak und seine Kollegen fanden tatsächlich eine Regel heraus, mit der eingeschätzt werden kann, wie bedroht ein unregelmäßiges Verb ist: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein unregelmäßiges Zeitwort zu einem regelmäßigen wird, ist umgekehrt proportional zur Quadratwurzel seiner Häufigkeit. Oder anders ausgedrückt: Ein Wort, das 100mal häufiger gebraucht wird als ein anderes, "konvertiert" zehnmal seltener.

Mit dieser Formel fanden die Wissenschaftler Verben, die aufgrund ihrer Gebräuchlichkeit extrem lange "Lebenszeiten" als unregelmäßige Form haben (z.B. "be" - "sein" und "think" - "denken") und solche, die bald zu schwachen Verben werden.
Welche Verben werden schwach?
Die Forscher lassen sich in ihrer Studie zu durchaus genaueren Prognosen hinreißen: Von der Gruppe " begin, break, bring, buy, choose, draw, drink, drive, eat, fall" wird in näherer Zukunft ein Zeitwort regelmäßig konjugiert werden, von "bid, dive, heave, shear, shed, slay, slit, sow, sting, stink" werden gleich fünf ihre vokale Stärke verlieren. Laut Untersuchung wird es im Jahr 2500 nur mehr 83 unregelmäßige Verben geben. Das nächste Verb, das regelmäßig wird, ist "to wed": "Frisch verheiratet" wird dann nicht mehr "newly wed" sondern "newly wedded" heißen.
Memetik als neue Disziplin?
Der Ansatz der Evolutionstheoretiker, Sprache wie ein Genom hinsichtlich der Selektion zu analysieren, wird von Kollegen aus der Linguistik erfreut, aber auch kritisch beäugt: Der Sprachwissenschaftler W. Tecumseh Fitch von der University of St. Andrews formuliert es in einem die Studie begleitenden Kommentar so: Der Ansatz sei erfrischend, "bleibt aber auf der beschreibenden Ebene und liefert keine Erklärungen."

Wenn es jemals - analog zur Genetik - die Disziplin der Memetik geben sollte, sollte sie entlang zweier Grundlinien vorgehen: quantitative Analyse von Veränderungen verknüpft mit theoretischen Modellen, die die Vielschichtigkeit von Sprache als kulturelles Produkt in Betracht ziehen.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 11.10.07
->   Martin Nowak (Program for Evolutionary Dynamics, Harvard University)
->   W. Tecumseh Fitch
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01.01.2010