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"Lifelong Learning" ist kein Allheilmittel  
  Seit mehr als zehn Jahren ist der Begriff des "lebenslangen Lernens" in aller Munde. Demzufolge leben wir alle in einer Wissensgesellschaft, in der wir nur überleben können, wenn wir uns immerzu und lebenslang neues Wissen und Können aneignen. Die Sozialwissenschaftlerin Karin Steiner hält das Konzept für eine Lüge. Weiterbildung ist auf dem Arbeitsmarkt kein Allheilmittel und kann bestehende Diskriminierungen nicht kompensieren, schreibt sie in einem Gastbeitrag.  
Die Lüge vom Lebenslangen Lernen
Von Karin Steiner

Weiterbildung ist heutzutage ein Muss für diejenigen, die mit den technologischen Veränderungen mithalten und sich permanent neuen Bedingungen in Wirtschaft und Gesellschaft anpassen wollen. Wer erfolgreich sein will, muss sein Wissen und Können permanent vermehren und dies auch entsprechend vermarkten.

"Wenn du unten bist und nach oben willst, dann bilde dich weiter." So die wichtigste Werbebotschaft von großen Weiterbildungsanbietern, mithilfe derer neue Kunden gewonnen werden sollen.

Auch Arbeitslose können Arbeit nur dann wieder finden, wenn sie Kurse besuchen und so ihre Fähigkeiten wieder auf den neuesten Stand bringen. Beliebt sind vor allem der ECDL (Europäischer Computerführerschein) und Englischkurse. All dies soll dazu dienen, "anschlussfähige" Qualifikationen zu erlangen, die Arbeitsuchende wieder zu begehrten Arbeitskräften machen.
Gewinner und Verlierer
Doch bei genauerer Betrachtung stellt sich die Frage, ob Lifelong Learning nicht nur eine politische Floskel ist. Betriebe werden durch weiterbildungswillige MitarbeiterInnen wettbewerbsfähiger.

Die Teilnahme an interner Weiterbildung führt in der Folge vielleicht (?) zu innerbetrieblichem Aufstieg. Zu den VerliererInnen unserer Wissensgesellschaft zählen mithin diejenigen, die vergeblich versuchen, mithilfe von Weiterbildung einen besseren oder zumindest irgendeinen Job zu bekommen.
Wettbewerbsfähigkeit durch Weiterbildung?
Wettbewerbsfähige Unternehmen investieren heute einen Großteil ihres Kapitals in den Erwerb neuen Wissens (Forschung) und in die Weiterentwicklung ihrer Mitarbeiter (Weiterbildung). Der gewaltige Wettbewerbsdruck zwingt Firmen heute auch dazu, die Spreu vom Weizen zu trennen.

In die sogenannten High Potentials - Menschen mit besonderen Fähigkeiten - wird heute investiert, sie und die Unternehmen, die sie für sich gewinnen können, sind die Gewinner unserer heutigen Gesellschaft. Menschen mit Krankheiten, sozialen Problemen oder unbrauchbaren Qualifikationen wurden eliminiert oder in die sogenannte Randbelegschaft der Unternehmen gedrängt.
Zählt wirklich die Qualifikation?
Diejenigen also, die von den Unternehmen verdächtigt wurden, ihren Zielen nicht in hinreichendem Maße nützlich zu sein, wurden "freigesetzt" - wie es so schön heißt. Und diese Menschen sollen sich jetzt bitte weiterbilden, damit sie wieder wettbewerbsfähig werden.

Das heißt, im Wettbewerb mit anderen Jobwechslern oder Arbeitsuchenden konkurrieren und so das heutzutage Wichtigste ergattern können: einen Arbeitsplatz. Doch ist es wirklich immer die Qualifikation, die alleine zählt?
Diskriminierung am Arbeitsmarkt
Bei genauerer Betrachtung ist das Phänomen Arbeitslosigkeit nicht nur auf einen Mangel an bestimmten Qualifikationen oder Kompetenzen zurückzuführen. Vielmehr ist es eine Vielzahl von Faktoren, die Einfluss auf den individuellen Erfolg auf dem Arbeitsmarkt nehmen.

So haben es tendenziell Jüngere und Ältere schwerer in den Arbeitsmarkt hinzukommen, gegen beide Gruppen gibt es erhebliche Vorurteile. Entweder man wird als zu jung und unerfahren oder als zu alt und unflexibel von Unternehmen bewertet.

Auch Menschen, großteils Frauen, mit Kinderbetreuungspflichten haben es schwerer, den Anforderungen einer Arbeitsstelle zu entsprechen. So sind qualifizierte Stellen immer noch fast durchgängig Vollzeitstellen, Frauen mit Betreuungspflichten bevorzugen aber größtenteils Teilzeitarbeit.
Gesundheit und Arbeitslosigkeit
Immerhin 85 Prozent aller Erwerbstätigen schätzen in einer Erhebung von Statistik Austria (2006) ihren Gesundheitszustand als sehr gut oder zumindest gut ein. Bei allen Arbeitslosen sind es nur mehr 60 Prozent, bei den Langzeitarbeitslosen, die über ein Jahr arbeitslos waren sind es sogar nur mehr 54 Prozent, etwa so viele wie bei PensionistInnen.

Zu den wesentlichsten gesundheitlichen Problemen zählen Übergewicht, Alkohol- und Medikamentenkonsum sowie Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates und psychische Erkrankungen (Depression¿).

Arbeitslose haben am Arbeitsmarkt mit sozialen und gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, die ein Weiterbildungskurs allein also sicher nicht lösen kann.

[2.11.07]
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Über die Autorin
Karin Steiner ist Sozialwissenschaftlerin und Geschäftsführerin des Forschungsinstituts abif. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Lebenslanges Lernen, Arbeitsmarkt und Gesundheit.
->   abif
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->   Forschungsprojekt "Bildungsziele in der Wissens- und Informationsgesellschaft - Eine Analyse des Bildungsdiskurses von 1990-2001"
->   Magazin "Lebenslanges Lernen in Österreich - politische, organisatorische, finanzielle und didaktische Anforderungen"(10/07)
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01.01.2010