News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Ästhetik und Säkularisierung in der Klassischen Moderne  
  Der Prozess der Säkularisierung, also die Ablösung von der christlichen Religion, hat das Zeitalter der Moderne in Europa entscheidend geprägt und auch in der Kunst einen tief greifenden Bruch herbeigeführt. Der Emanzipationsprozess der Kunst wurde von den Vertretern der Kirche heftig bekämpft - eine Auseinandersetzung, die bis heute anhält.  
Durch die Säkularisierung verlor der von der Religion geprägte Wertekanon, der Jahrhunderte gültig war, an Bedeutung. In den Mittelpunkt rückte das menschliche Subjekt, das für sein Handeln verantwortlich ist. Die Kunst diente nicht mehr der Glorifizierung der christlichen Religion, sondern erlangte einen eigenen Stellenwert.

Ein Kongress im Deutsch-Italienischen-Zentrum Villa Vigoni in Menaggio am Comosee beschäftigte sich Anfang Oktober 2007 mit dem Thema "Ästhetik und Säkularisierung in der Klassischen Moderne".
Nachtseite der Säkularisierung
Die Säkularisierung war nicht nur eine Erfolgsgeschichte. Ihre Schattenseite bestand darin, dass das Gefühl der Geborgenheit, das Religion vermittelte, verloren ging. Der Einzelne empfand sich als isoliertes Individuum - gleichsam in die Welt geworfen und auf sich allein gestellt. Deutliche Spuren davon kann man in den literarischen und philosophischen Werken der klassischen Moderne vorfinden.
"Klassische Moderne"
Der in Hildesheim tätige Kulturwissenschaftler und Germanist Silvio Vietta nennt als Arbeitshypothese den Zeitrahmen der klassischen Moderne in der Literatur. Er reicht von Gustave Flaubert bis zu Robert Musil, also rund 80 Jahre.

Aldo Venturelli, Generalsekretär der Villa Vigoni und Professor für neue deutsche Literatur in Urbino, akzentuierte den Beginn der klassischen Moderne mit dem Jahr 1889. Es ist bezeichnenderweise das Jahr, in dem Friedrich Nietzsche in Turin seinen geistigen Zusammenbruch erlitt.
Theodor W. Adorno über die Moderne
"Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssigel der Moderne." Mit diesem Satz charakterisiert Theodor W. Adorno die zentralen Texte der klassischen Moderne. Nach Adorno findet sich in den Romanen von Franz Kafka oder Marcel Proust das ausgedrückt, was sich den philosophischen Texten entzieht: Das Andere, das Nicht-Begriffliche, das Nicht-Identische.

In den avanciertesten Werken der klassischen Moderne wird die Brüchigkeit der menschlichen Existenz sichtbar. Die Kunst selbst verweigert den Anspruch, Realität abzubilden; sie wird vieldeutig, manchmal hermetisch. Adorno spricht vom "Rätselcharakter der modernen Kunst". Genau darin liegt ihr utopisches Potenzial, betonte der Philosoph Georg W. Bertram von der Universität Hildesheim; sie ist die Antithese zur empirischen Realität.
Gottfried Benn: "Alles verfallen und ausgelaugt"
Die von Adorno angesprochenen "Male der Zerrüttung" lassen sich besonders deutlich am Werk von Gottfried Benn aufzeigen. Die an der Université catholique de Louvain lehrende Germanistin Antje Büssgen interpretiert die Gedichte Benns als Dokumente eines radikalen Nihilismus: "Jahre waren es, die lebte ich nur im Echo meiner Schreie, hungernd und auf den Klippen des Nichts", notierte Benn.

Dieser Nihilismus ist das Resultat eines universellen Sinnverlusts: "Der bisherige Mensch ist zu Ende. Biologie, Soziologie, Theologie, alles verfallen und ausgelaugt, alles Prothesenträger". Das von der Aufklärung gepriesene souveräne Subjekt, das eine starke Ich-Identität ausbildet, ist reine Fiktion: "Das Innere ist ein Vakuum, die Kontinuität der Persönlichkeit wird gewahrt von den Anzügen, die bei gutem Stoff zehn Jahre halten". Die Folge davon ist ein "desintegriertes Subjekt" (Silvio Vietta), das voll Melancholie seinen Zustand kommentiert: "Nun gab es nichts mehr, das mich trug"
...
Literatur zu Gottfried Benn
Antje Büssgen: Glaubensverlust und Kunstautonomie. Über die ästhetische Erziehung des Menschen bei Friedrich Schiller und Gottfried Benn, Universitätsverlag Winter
->   Antje Büssgen (Université catholique de Louvain)
...
Selbstdestruktion bei Georg Trakl
Noch einen Schritt weiter ging Georg Trakl. Er erweiterte das Spektrum des "desintegrierten Subjekts" um die Facette der Selbstdestruktion, die er mittels Opiaten und Alkohol intensiv betrieb: "Auf schwarzer Wolke/Befährst du trunken von Mohn/Den nächtigen Weiher". Diese "Sucht nach Sog" (Klaus Heinrich) ist das Resultat eines existenziellen Leidens an der trivialen Welt der Normalität, worauf die in Siena lehrende Germanistin Elisabetta Mengaldo hinwies.

Trakl, der sich als "engster Sohn" Hölderlins fühlte, sah als Alternative zur permanenten Berauschung nur noch den Wahnsinn: "Zur Vesper verliert sich der Fremdling in schwarzer Novemberzerstörung/Unter morschem Geäst, an Mauern voll Aussatz hin/ Wo vordem der heilige Bruder gegangen/ Versunken in das sanfte Saitenspiel seines Wahnsinns".
Ambivalenz der Säkularisation
Der von Gottfried Benn und Georg Trakl formulierte Nihilismus - das Ergebnis eines radikalen Säkularisierungsprozesses - markiert gleichsam den Nullpunkt der Existenz. Das offensichtliche Defizit lässt die Sehnsucht nach einer neuen Form des Sakralen aufkommen, die sich der überlebten Tradition der christlichen Religion entzieht und gleichzeitig den Nihilismus überwindet.

In dieser Sehnsucht drückt sich laut Silvio Vietta die "Ambivalenz der Säkularisierung" aus. Jürgen Habermas sprach in diesem Zusammenhang von einer "Dialektik der Säkularisierung"; "ihr motivbildender Gedanke ist die Versöhnung mit der sich selbst zerfallenden Moderne".
...
Literatur zur Moderne
Silvio Vietta/Dirk Kemper: Ästhetische Moderne in Europa. Wilhelm Fink Verlag
->   Silvio Vietta (Uni Hildesheim)
...
Martin Heidegger: "Freihalten von der Gottesfrage"
Der in Freiburg emeritierte Philosoph Friedrich-Wilhelm von Herrmann, ein enger Vertrauter Heideggers, wies darauf hin, dass Heidegger bereits in einer Vorlesung von 1921/22 forderte, dass die Philosophie des faktischen Lebens - die spätere Daseinsanalytik von "Sein und Zeit" - "freigehalten werden müsse von der Gottesfrage". Die existenzialen Analysen der Grundbefindlichkeit der Angst, des Seins zum Tode und Schuldigkeit dürften nicht vor einem theologischen Hintergrund gelesen werden, sie seien einer hermeneutischen Phänomenologie vorbehalten.

Die Ambivalenz in Heideggers Denken zeigt sich in seiner These vom "letzten Gott". Das Motto lautet: "Der ganz Andere gegen die Gewesenen, zumal gegen den christlichen". Säkularisierung meint die Entchristlichung zugunsten eines gewandelten Gottesdenkens.
Stefan George: Sehnsucht nach Sakralisierung
Die Sehnsucht nach einer neuen Sakralisierung, die nicht mit der christlichen Religion gleichgesetzt wird, findet sich besonders deutlich bei Stefan George, wie der in Genf emeritierte Literaturwissenschaftler Bernhard Böschenstein hervorhob. George hat Konjunktur, wie eine kürzlich publizierte, 816 Seiten umfassende Biografie von Thomas Karlauf beweist.
...
Literatur zu Stefan George
Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hrsg): Stefan George. Werk und Wirkung seit dem "Siebenten Ring", Max Niemeyer Verlag
Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, Blessing Verlag
...
Hohe Bestimmung der Kunst
George - charismatischer "Meister" einer ihm treu ergebenen Anhängerschaft - lehnte als Verkünder einer neuen Religion, ähnlich wie Adorno, die Ansprüche der empirischen Welt ab. Nur der Eingeweihte sollte die hohe Bestimmung der Kunst erkennen.

"Da brach die alte not - euch ward ein sinn". Mit George erreichte die "Dialektik der Sakralisierung" (Habermas) ihren Höhepunkt. Karl Wolfskehl, ein Mitglied des George Kreises brachte dies auf den Punkt: "Ein neues priestertum ist erstanden ein neues reich den gläubigen zu künden".

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, 30.10.07
Mehr zum Thema Ästhetik in science.ORF.at:
->   Religion und Ästhetik: Die Entdeckung der Sinnlichkeit (U. Körtner, 31.3.05)
Mehr über Philosophie in science.ORF.at:
->   Buch: 1.000 Fragen und Antworten zu Philosophie (21.9.07)
->   Philosoph Dretske: Metaphysik der Information (8.8.07)
->   Wie aktuell ist Hegel heute noch? (8.6.07)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010