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"Nature" unter Hitler: Die Geschichte eines Verbots  
  1937 wurde die renommierte Wissenschaftszeitschrift "Nature" vom nationalsozialistischen Regime in Deutschland verboten. Als Grund wurde unter anderem angeführt, dass das "jüdische Gräuelblatt" "unerhörte und niederträchtige Attacken gegen die deutsche Wissenschaft und den nationalsozialistischen Staat" reite.  
Zwei Wissenschaftler der Universität Jena haben die in Vergessenheit geratene Geschichte des Verbots aufgearbeitet und nun auf der Website von "Nature" veröffentlicht.

Sie liefern mit ihrer Arbeit nicht nur ein detailreiches Bild, wie Bücher- und Zeitschriftenverbote im NS-Regime umgesetzt wurden, sondern bieten auch einen interessanten Einblick in die Instrumentalisierung von Wissenschaft für die nationalsozialistische Propaganda.
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Der Artikel "Nature and Hitler" von Uwe Hoßfeld und Lennart Olsson ist in der Rubrik "History of the Journal Nature" erschienen (doi:10.1038/nature06242).
->   Zum Artikel
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Beschuss von "Nature" begann bereits 1936
Dass Uwe Hoßfeld und Lennart Olsson damit begannen, die Verbotsgeschichte auszuarbeiten, war einem Zufall zu verdanken: Bei Recherchen zur Geschichte der Universität Jena stieß Hoßfeld auf ein Dokument, das auf ein Verbot der Zeitschrift hindeutete.

Er ging den Hinweisen nach und rollte gemeinsam mit Lennart Olsson einen Prozess auf, der bereits 1936 begann.
Kritik bei Einweihung des Lenard-Instituts
Obwohl "Nature" Interesse an Theorien der Eugenik gezeigt hatte, wurde der Zeitschrift zum Verhängnis, dass Redakteure immer wieder den Hinauswurf von jüdischen Wissenschaftlern aus deutschen Forschungseinrichtungen und die damit einhergehende Qualitätsminderung der wissenschaftlichen Arbeit kritisierten. So war bereits 1936 bei der Einweihung des Lenard-Instituts in Heidelberg in "Nature" von einem "Gesinnungswechsel" zu lesen.

Außerdem stellte der "Nature"-Mitarbeiter einen direkten Bezug zwischen der Arbeit Philipp Lenards, der nicht nur Atom- und Festkörperphysiker sowie Nobelpreisträger war, sondern auch zum Wortführer der "Arischen Physik" avancierte, und dem Werk "des Nicht-Ariers Wartburg" her - ein Affront für die NS-Behörden.
->   Mehr über Philipp Lenard (Wikipedia)
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Verbot am 12. November 1937
Am 12. November 1937 wurde "Nature" schließlich per Dekret des "Reichs- und Preussischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung" Bernhard Rust verboten. Als Grund wurden "Abhandlungen angeführt, "die unerhörte und niedrige Angriffe gegen die deutsche Wissenschaft und den nationalsozialistischen Staat darstellen". Die Universitätsbibliotheken wurden angewiesen, die "Nature"-Bestände zu entfernen.
->   Das Dekret im Original (.pdf)
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Rechtfertigung
 


Als Verteidigung des Verbots erschien im März 1938 ein Beitrag in dem als "Nature"-Ersatz gefeierten Propaganda-Blatt "Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft", der nicht nur die Hetze gegen "Nature" als "jüdische Gräuelzeitschrift" belegt, sondern tief in das NS-Verständnis von Wissenschaft blicken lässt.

Abgesehen von diversen Unterstellungen, etwa dass die "Nature"-Korrespondenten in Deutschland und Italien "seit 1933 eine antifaschistische Spitzel- und Schnüffelorganisation" betreiben würden, wird gleich zu Beginn des Beitrags klargestellt:

So wie es "scholastischen Widerstand gegen das nordische Weltbild des Kopernikus" gegeben habe, habe auch "Nature" die "weltanschauliche Wendung der Wissenschaft und Forschung durch die heutige Rassenkunde und Vorgeschichtsforschung" nicht vollzogen.
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"Ausschaltung der Juden"
Den Autoren ein besonderer Dorn im Auge ist die Kritik der Zeitschrift an der "Ausschaltung der Juden" und den "Ausleseprinzipien". Detailliert beschreiben sie die "Nature"-Berichterstattung über das "Großreinemachen" ("clean-up") an den mathematischen und physikalischen Instituten in Göttingen und mokieren sich, dass "Nature" "alle Juden und ihren Anhang vorführt", die nicht mehr dort unterrichten und forschen durften.
->   Der Beitrag in der "Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft" (.pdf)
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Ideologisierung der Wissenschaftsgeschichte
Zum Schluss fassen die Autoren "zur Aufklärung der nur durch die Judenpresse falsch unterrichteten Ausländer" ihr Verständnis von den Aufgaben und der Freiheit der Wissenschaft zusammen:

"Wir lernen aus der Geschichte der Wissenschaften, dass alle die Beiträge, die zu wesentlichen neuen Erkenntnissen und Fortschritten, zu den schöpferischen Neugestaltungen führten, von Forschern arischen Blutes geliefert wurden. Daraus folgt mit Notwendigkeit, dass das von den Ariern begründete und aufgerichtete Gebäude der Wissenschaft allein im Stile und Geiste der arischen Architekten (...) weitergebaut werden darf."

Habe man einmal die "Erkenntnis der Blutsbedingtheit der Wissenschaft gewonnen", könne man sich der "Verpflichtung zur Pflege der unserer Rasse entspringenden Werte nicht länger mehr entziehen", heißt es abschließend.
Umsetzung des Verbots nicht nachvollziehbar
Wie das "Nature"-Verbot in den Bibliotheken tatsächlich umgesetzt wurde, können Uwe Hoßfeld und Lennart Olsson nur für ihre eigene Universität beantworten: In Jena verschwanden einige Ausgaben des Jahrgangs 1937, in anderen Archiven deutscher Universitäten sind sie aber vollständig vorhanden.

"In den 1940er Jahren begannen aber auch die Bibliothekare in Jena, Bücher und Zeitschriften vor der Zerstörung zu bewahren", so Hoßfeld. Die "Nature"-Bände aus diesen Jahren sind bis heute erhalten.
->   Reaktion des "Nature"-Herausgebers Sir Richard Gregory auf das Verbot (pdf)
Hitler erfand eigenen "Nobelpreis"
Das Verbot von "Nature" fügt sich ein in eine Reihe von Maßnahmen gegen die Wissenschaft, die - neben aller Unfassbarkeit - auch beinahe skurrile Blüten trieb:

So rief Adolf Hitler im Jänner 1937 einen eigenen "Nobelpreis" ins Leben, um gegen die Verleihung des Friedensnobelpreises 1936 an Carl von Ossietzky, einen Gegner des NS-Regimes, zu protestieren.

Der mit 100.000 Reichsmark dotierte Preis sollte jährlich an zwei "Deutsche mit besonderen Verdiensten verliehen werden".

Elke Ziegler, science.ORF.at, 22.10.07
->   Uwe Hoßfeld (Universität Jena)
->   Lennart Olsson (Universität Jena)
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01.01.2010