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Die Paradoxie des Theaters in Steinhof  
  In der Romantik ist die Idee aufgetaucht, Theater nicht nur zur Erbauung zu nutzen, sondern auch zur Therapie psychisch Kranker. Hundert Jahre später, in der Wiener Moderne, waren Theater in den Nervenheilanstalten Standard.  
Sie wurden aber nicht zur Kur der Patienten genutzt, sondern zu ihrer Zerstreuung. Die Theater symbolisierten so kulturelle Werte und versprachen keinen therapeutischen Nutzen.

Die Kunsthistorikerin Julie Johnson, Assistant Professor an der University of Texas at San Antonio und zurzeit als Research Fellow am IFK in Wien, hält dies für paradox. Im science.ORF.at-Interview beschreibt sie anhand der Anstalt Steinhof in Wien die widersprüchliche Rolle, die das Theater in der Psychiatrie gespielt hat.
science.ORF.at: Üblicherweise wird das Wien des Fin-de-Siecle charakterisiert als Zeit der Innerlichkeit, Freud blickte ins Innere der Seele, Schnitzlers innere Monologe etc. Sie betonen hingegen die Wichtigkeit des Außen, etwa die Vogelperspektive, die Architekten eingenommen haben, um Projekte wie Steinhof zu bauen.

Julie Johnson: Ich halte diese beiden Sichtweisen nicht für einen Widerspruch. Natürlich ist die dominierende Sicht auf die Wiener Moderne mit ihrem Hang zur Innerlichkeit korrekt. Aber zusätzlich halte ich die Außenperspektive, das auf-die-Welt-Schauen für sehr wichtig. Denken Sie an das Riesenrad, das zu dieser Zeit errichtet wurde und von dem man einen großen Überblick hat, auch das ist ein Teil der Wiener Moderne.

Und das hat sehr viel mit meiner Beschäftigung mit dem Theater in Steinhof zu tun. Man sollte meinen, dass es dabei um das Innere der Psyche geht, also wie man in sie hineinkommen und kurieren kann. Nach den medizinischen Schriften, die ich studiert habe, wurde von den Ärzten aber immer das Gegenteil betont, die Äußerlichkeit.

Die einzige positive Rolle, die sie dem Theater bei der Behandlung ihrer Patienten zugeschrieben haben, war die der Zerstreuung. Also etwas, das nicht nach innen führt, sondern nach außen. Als Therapieform, wie sie heute etwa üblich ist, haben sie Theater komplett abgelehnt.
->   Julie Johnson: Beide Sichtweisen kein Widerspruch (Audio; 1:07 min)
Als Steinhof 1907 eröffnet wurde, war das Theater ein fixer Bestandteil. Wie kam es dazu?

Zum Teil hat das mit der Architekturtradition zu tun. Die Ärzte der Zeit sind viel gereist, haben sich Vorbilder angesehen und sehr oft darüber geschrieben, wie die ideale Architektur für ihren Beruf aussehen müsste. Der Pavillonstil galt dabei als der beste.

Der erste Architekt für Steinhof war Carlo von Boog, der schon die Nervenanstalt in Mauer-Öhling in Niederösterreich gebaut hatte. In der 1902 eröffneten Klinik mit 40 Pavillons steht in der Mitte eine Kombination aus Kirche und Theater, die für beide Zwecke genutzt wurde. Das war ursprünglich sehr umstritten. In Steinhof waren es dann 60 Pavillons, es gab eine eigene Kirche und ein Theater.
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Julie Johnson hält am Montag, den 5. November 2007 um 18.00 c.t. am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel "The bird's-eye view at Steinhof".
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien.
->   Mehr über den Vortrag
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Bild: Julie Johnson
Programm des Steinhof-Theaters aus dem Jahr 1914
Was war der Grund für diese Neigung, Theater in psychiatrischen Anstalten einzubauen?

Ich denke, es hatte nichts mit Therapie im heutigen Sinn zu tun. Viel eher ging es um Architektur, die zwischen der Öffentlichkeit und den Ärzten vermitteln sollte. Wie kürzlich Carla Yanni in einem Buch sagte, konnten Ärzte ohne ihre Gebäude damals ihren Beruf nicht ausüben. Es gab damals noch nicht das System der Ärztepraxen von heute, deshalb spielte die Frage der Architektur der Gebäude eine so wichtige Rolle.

Die Familien der Patienten sollten sich wohlfühlen, die Atmosphäre freundlich sein, Theater haben dazu stark beigetragen. In Werbebroschüren der Zeit wurde ein Gegensatz gezeigt: einerseits war der Narrenturm im Wiener AKH zu sehen - obwohl der schon lange nicht mehr benutzt wurde -, wo Patienten an die Wand gefesselt waren, andererseits die neuen Anstalten Mauer-Öhling und Steinhof, die Gesundheit und Freiheit versprachen.
Es ging also weniger um die Patienten als um ihre Angehörigen?

Ja, und dazu kommt noch die spezielle Rolle, die das Theater in der Kultur des Wiener Fin-de-Siecle gespielt hat, wie sie schon Carl Schorske beschrieben hat. Seine These ist es, dass das Theater dem Bildungsbürgertum dazu diente, eine Art Brücke zu bauen zu den Werten der Aristokratie. Und es diente auch als pädagogische Anstalt.

Wenn man die Protokolle der zuständigen Wiener Bürokratie liest, die für die Finanzierung des Krankenhauses zuständig war, fällt auf: Überall wird versucht, Abstriche zu machen oder einzusparen, selbst bei der Otto Wagner Kirche, aber nicht beim Theater. Das wurde einfach akzeptiert, ohne Gegenfrage.
Was haben sich die Anstaltsleiter von den Theatern erwartet?

Für Josef Starlinger, dem Leiter von Mauer-Öhling, ging es weniger um gutes Theater, sondern um die Bildung von Gemeinschaft. Seiner Ansicht nach sollten sich die Patienten wie die Bürger der Anstalt fühlen.

Die Aufführungen wurden ein Monat im Vorhinein angekündigt, man sollte sich darauf freuen. Und einige der Patienten waren auch unter den Schauspielern, bekamen sogar Schauspielunterricht. In der Anstaltszeitung gab es sogar Kritiken zu der Aufführung. Aber es hatte nie etwas mit Therapie im Sinne von Kur oder Selbstverständnis zu tun.
Diese Idee, Theater als Therapie zu verwenden, ist ja eigentlich viel älter, hatte im damaligen Wien aber wenig Konjunktur.

Ja, das ist ungeheuer paradox. Die Idee stammt aus der Romantik von Johann Christian Reil, der als Gründer der deutschen Psychiatrie bis heute gilt. Reil war der Meinung, dass man durch Schauspiel, durch das Einnehmen anderer Rollen, den eigenen Wahn, die eigenen fixen Ideen kurieren könnte. Das hat man im 19. Jahrhundert aber nicht ernst genommen.

Die Theater in Steinhof und den anderen Anstalten wurden zwar dann genauso gebaut, wie sich das Reil vorgestellt hat, aber nicht in seinem Sinne verwendet. Für sie blieb das ganze nur Zeitvertreib, Zerstreuung, so wie Arbeiten oder andere Dinge.
->   Julie Johnson über das Paradox (Audio; 0:15 min)
Welche Stücke würden aufgeführt im Theater von Steinhof?

In der Regel waren das kurze Stücke, z.B. Possen oder Varieté. Später wurden dann Erziehungsfilme gezeigt, vor allem Dokumentationen. Aber nichts, was mit tiefen Emotionen zu tun hätte, bei denen Identifikationsprozesse in Gang gesetzt werden könnten. Dramatherapie oder Psychodrama heute beinhaltet viel von dem, was Reil wollte, in der Wiener Moderne war das aber nicht gefragt.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 5.11.07
->   Julie Johnson, IFK
->   Architektur und Psychiatrie (oe1.ORF.at)
->   Sozialmedizinisches Zentrum Baumgartner Höhe Otto-Wagner-Spital
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   100 Jahre Steinhof im Spiegel der Krankenakten (10.7.07)
 
 
 
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01.01.2010