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Holocaust: Ältestes Videoarchiv feiert 25. Geburtstag  
  An der Yale University in den USA besteht das älteste Archiv der Welt, das die Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden in Form von Videos dokumentiert. Über 4.400 Interviews wurden bisher geführt, über 12.000 Stunden Videomaterial gesammelt. Am Wochenende feierte das "Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies" mit einem Symposion seinen 25. Geburtstag.  
Wie es zur Gründung des Archivs gekommen ist, was die Unterschiede zu ähnlichen Projekten sind und warum es in Österreich keine Partnerprojekte gibt, verrieten Geoffrey Hartman und Stephen Naron in einem science.ORF.at-Interview.

Der Literaturwissenschaftler Hartman, selbst als Kind vor den Nazis geflohen, ist einer der Gründer des Videoarchivs, Naron ist seit vier Jahren Mitarbeiter.
Bild: University of Yale
Geoffrey Hartman
Was war die ursprüngliche Idee des Videoprojekts und was hat sich in den vergangenen 25 Jahren geändert?

Geoffrey Hartman: Da sich Video immer mehr als ein gutes Medium der Pädagogik herausgestellt hat, haben wir es zur Aufnahme der Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden und Zeitzeugen verwendet. Beinhaltet ist dabei nicht nur die Zeit der Verfolgung, sondern auch die oft schmerzvolle Zeit danach, die Resozialisierung, die Rückkehr in die eigene Kultur oder bei den Flüchtlingen der Übergang in eine fremde Kultur.

Die Forscher haben damals die historischen Fakten sehr sorgfältig gesammelt, vor allem was die Täter betrifft. Wir dachten, dass man zusätzlich auch den Perspektiven der Opfer Aufmerksamkeit schenken sollte, ihren Erinnerungen an den Alltag, das tägliche Leben und Sterben in den Konzentrationslagern, die Erlebnisse beim Verstecken.

Diese Ursprungsidee ist auch heute noch gültig. Aber wir verstehen heute noch mehr, wie wichtig es ist, nicht nur die Erinnerungen Prominenter zu erhalten, sondern auch die vieler anderer, die aus ökonomischen oder anderen Gründen sich nicht schriftlich ausgedrückt haben. Auch ihre Stimmen sollten erhalten bleiben, ihre Aussagen in erster Person, sichtbar durch das Video.
Während es in Deutschland ein Partnerprojekt gibt, ist das in Österreich nicht der Fall. Warum?

Geoffrey Hartman: Ich habe Partnerschaften geschlossen, wo ich konnte, das lag vor allem an den akademischen Einladungen, die ich bekam. Aus Österreich habe ich kaum eine dieser Einladungen erhalten. Meine Freunde, Unterstützer und ich waren mit vielen andern Ländern in Kontakt, aus Österreich hat uns keine starke Initiative erreicht.
Wie sieht die konkrete Situation bei Ihren Interviews aus?

Stephen Naron: Es ist ganz einfach: Am Anfang präsentieren sich die Interviewer, erklären das Datum der Aufnahme und übergeben dann an die Überlebenden. Nun stellen sich diese vor und beginnen mit der Erzählung ihrer Erinnerungen. Uns ist es ganz wichtig, dass die Überlebenden die Richtung des Interviews bestimmen.

Die Interviewer sind bloß empathische Zuhörer, in ihrer Rolle ziemlich passiv. Es gibt keine Fragenliste, nur Unterstützung. Das Verhältnis der beiden ist wie in der Schule zwischen Lehrer und Schüler, wobei der Überlebende der Lehrer ist. Natürlich sind alle Interviewer gut ausgebildet, wissen über den Holocaust Bescheid und kennen auch die Familiengeschichte des Überlebenden.
Wie kommen Sie zu den Überlebenden und welche Informationen haben sie vor dem Gespräch?

Stephen Naron: Die Überlebenden müssen uns kontaktieren. Sie erfahren von uns durch Mundpropaganda. Wir bitten niemanden um seine Erzählung, weil wir wissen, dass das sehr traumatisch sein kann. Deshalb ist es sehr wichtig, dass sie von sich aus den Wunsch haben zu erzählen. Sobald das geschieht, machen wir uns einen Termin hier in Yale aus.

Knapp davor kontaktiert ein Interviewer dann den Überlebenden, um einige prinzipielle biografische und geografische Informationen zu bekommen und sich damit vorbereiten zu können.
Ihr Videoarchiv war das erste seiner Art, mittlerweile gibt es viele ähnliche, u.a. auch jenes des Regisseurs Steven Spielberg. Worin liegen die Unterschiede und was halten sie davon?

Geoffrey Hartman: Wir haben versucht Interview-Standards einzuführen, damit auch andere Projekte erfolgreich sein können. Als Spielberg unabhängig von uns sein zehnmal größeres Projekt vierzehn Jahre später begann, haben wir seinem Team alles geliefert, was wir bis dahin gelernt haben.

Uns geht es weniger um die Produktion von Erziehungsfilmen, obwohl wir auch einige kleinere gemacht haben und etwa in den Schulen um New Haven auch pädagogisch tätig sind. Anfangs haben wir mehr als das Spielberg-Projekt darauf gedrängt, die Inhalte der Videoerinnerungen und das Medium wissenschaftlich zu reflektieren. Mittlerweile ist aber die Spielberg Foundation selbst zu einem sehr erfolgreichen Erziehungsunternehmen geworden.
Soweit ich weiß, ist im Gegensatz zum Spielberg-Projekt bei Ihnen Dauer des Interviews nicht beschränkt, warum?

Stephen Naron: Mit einem Open End und ohne fixe Frageliste offenbaren die Überlebenden mehr von ihren Erinnerungen. Es geschieht oft, dass durch die Nacherzählung eines Ereignisses, die Erinnerung an ein anderes ausgelöst wird. Das kann mitunter dazu führen, dass sie chronologisch nicht zusammenhängen, aber insgesamt führt das zur Erzählung von mehr Erlebnissen.

Ich möchte ergänzen, dass auch beim Spielberg-Projekt prinzipiell die Möglichkeit bestand, die Dauer der Interviews nicht zu beschränken.
Was ist der wissenschaftliche Output des Archivs bis heute?

Stephen Naron: Es sind bereits unzählige Artikel, Bücher, Studien und Dokumentationen erschienen, die auf dem Material unseres Videoarchivs beruhen. Viele davon sind ausgezeichnet worden. Wichtige Beispiele des wissenschaftlichen Outputs sind Lawrence Langer's Buch "Ruins of Memory", das zweibändige Werk "Archive der Erinnerung: Interviews mit Überlebenden der Shoah" und die Gründung eines International Journal namens "Studies of the Audio-Visual Testimony of Victims of the Nazi Crimes and Genocides".

Man kann nie vorhersagen, was Forscher oder auch Künstler mit dem Material machen. Der moderne Komponist Steve Reich etwa hat Audiostücke für sein Stück "Different Trains" benutzt und dafür den Grammy gewonnen. Das Material wird auch in der Wissenschaft für unterschiedlichste Disziplinen verwendet, weshalb unsere Jubiläumsveranstaltung auch "Testimony Across the Disciplines" hieß.
Oral History ist in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden. Mittlerweile hat es den Anschein, dass jeder über seine Erinnerungen spricht, gleichgültig, ob es sich um Täter oder Opfer handelt. Haben die Videoaufnahmen der Holocaust-Überlebenden zu einem Trend beigetragen, der Geschichte letztlich enthistorisiert, weil alle Erfahrungen gleichgemacht werden?

Geoffrey Hartman: Nein, in Ihrem Sinne glaube ich das nicht. Es gibt allerdings tatsächlich eine öffentliche Erinnerungsflut wegen etwas, das ich einmal "Erinnerungsneid" genannt habe. Damit meine ich den Umstand, dass es besser ist, schmerzvolle Erinnerungen zu haben oder gar zu erfinden, als gar keine zu haben.

Dadurch kann die eigene Identität gestärkt werden, die durch die Erinnerungen der anderen in Bedrängnis gekommen ist. In jedem Fall wird der moralische Imperativ, authentische von erfundenen Erinnerungen zu unterscheiden - wie im "Fall Wilkomirski" - sowie jene von Tätern und Opfern zu unterscheiden, immer dringlicher.
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Geoffrey Hartman wurde 1929 in Frankfurt geboren. Als er neun Jahre alt war, wurde er mit einem Kindertransport vor den Verfolgungen der Nationalsozialisten gerettet. Er wuchs in England auf, wanderte mit 16 Jahren nach Amerika aus, studierte Anglistik und wurde Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Yale University. Hartman ist einer der Gründer des "Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies" und Leiter des Projekts.
->   Geoffrey Hartman
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Eine technische Frage: Befürchten Sie, dass Teile Ihrer Arbeit verloren gehen, aus simpel mechanischen Gründen, etwa weil die Videobänder kaputtgehen?

Stephen Naron: Yale verfügt glücklicherweise über sehr gute klimakontrollierte Räume zur Lagerung des Videomaterials. Niemand weiß aber wirklich, wie lange die Videobänder halten.

Der Großteil ist mit einem Industriestandard der 80er Jahre aufgenommen worden, deren Produkte heute gar nicht mehr hergestellt werden. Also müssen wir digitalisieren, aber genau das ist sehr kompliziert.

Das Hauptproblem ist, dass sich die Industrie noch auf kein Format geeignet hat für die dauerhafte Archivierung. Darüber könnte ich stundenlang reden, aber das würde Sie tödlich langweilen. Um es kurz zu machen: Wir betreiben gerade umfangreiches Fundraising, um unsere gesamte Sammlung zu digitalisieren und noch besser zugänglich zu machen.
Die ewige Frage: Glauben Sie, dass Ihr Archiv dazu beitragen kann, einen nächsten Holocaust zu verhindern?

Geoffrey Hartman: Bis jetzt hat es andere Völkermorde nicht verhindern können. Was zählt, ist aber unsere Reaktion auf derartige Ereignisse. Zweifellos ist das zum Teil eine reine Glaubensfrage. Aber viel mehr noch zählen Beharrlichkeit, intelligente Analyse und mutig übermittelte Oral History, sodass sich kein Täter mehr sicher fühlen kann.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 6.11.07
->   Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies
->   Shoah Foundation (Steven Spielberg)
->   science.ORF.at-Archiv zum Thema Holocaust
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Von Geoffrey Hartman ist zu dem Thema vor kurzem das Buch "A Scholar's Tale. Intellectual Journey of a Displaced Child of Europe" erschienen.
->   Mehr über das Buch (Fordham University Press)
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01.01.2010