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DDR-Bild Berliner Schüler: "Skurriles, witziges Land"  
  Die Alliierten haben 1945 die Berliner Mauer gebaut, die DDR war keine Diktatur und Helmut Kohl einer ihrer bekanntesten Politiker - solche Antworten erhielten Forscher der FU Berlin von Berliner Schülern.  
Die Wissenschaftler der Freien Universität (FU) Berlin waren von den Antworten, die sie fast 18 Jahre nach dem Mauerfall erhielten, nicht nur überrascht. Sie waren zutiefst entsetzt. Denn die Jugendlichen machten keine Witze, sie wussten es schlicht nicht besser.

Weder Lehrer noch Eltern seien wohl in der Lage, den Teenagern ein objektives Grundwissen über die jüngste deutsche Geschichte zu vermitteln, kritisiert FU-Forscher Klaus Schroeder. So lebe die DDR als sozial verklärte und politisch verharmloste Gesellschaft fort.
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"Es hat mich fast aus den Socken gehauen."
Schroeder und sein Team hatten vor Beginn der Studie erwartet, dass sich die Sicht auf die DDR mit den Jahren verändern würde. Die Kinder des 9. November 1989 wurden soeben volljährig. Die 2.400 Jugendlichen, die sie im Jahr 2006 für ihre Studie befragten, waren noch jünger: Es waren Gymnasiasten und Gesamtschüler zwischen 15 und 17 Jahren.

Schroeder hatte gedacht, dass sie kritischer gegenüber der DDR wären, distanzierter bereits als jene "Zonenkinder", über die es heute Romane gibt. Die Ergebnisse sahen anders aus. "Es hat mich fast aus den Socken gehauen", sagt der FU-Professor. Er leitet an der Freien Universität den Forschungsverbund SED-Staat.
->   Forschungsverband SED-Staat (FU Berlin)
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Unwissenheit, keine Überzeugung
Es mag für die Forscher nur ein schwacher Trost sein, dass viele der haarsträubenden Antworten auf völliger Unwissenheit beruhen - und nicht etwa auf Überzeugung. So gab rund ein Viertel aller befragten Schüler an, dass die DDR keine Diktatur gewesen sei, sondern sich die Menschen wie überall anpassen mussten.

Ein weiteres Viertel würde auch auf Freiheitsrechte verzichten, wenn sich der Staat dafür besser um die Bürger kümmerte. In Ostberlin war die Zustimmung zu solchen Aussagen zwar wie erwartet höher - doch auch im Westen zeigten sich viele Jugendliche einverstanden. Als Basis ihrer Meinung gaben einige Filme wie "Sonnenallee" oder "Good Bye Lenin" an. Und in der Schule sei das Thema "noch nicht dran gewesen".
Eine unpolitische, naive Generation?
Was in den Köpfen vieler junger Berliner als DDR-Bild vorherrscht, beschreibt Schroeder fast wie einen Klamauk-Film. "Es ist die Vorstellung eines ärmlichen, skurrilen und witzigen Landes, das aber irgendwie sehr sozial war", sagt er. Lachen kann er darüber nicht.

Der Wissenschaftler folgert, dass er nicht nur eine unwissende, sondern auch eine unpolitische und naive Generation vor sich hat - zumindest, wenn es um die jüngste deutsche Vergangenheit geht.
Kein Bezug zur eigenen Geschichte
Fast schockiert stellt der Forscher eine "gewisse Geschichtslosigkeit" fest. Er hat eine Ahnung von Schulklassen bekommen, die keinen Bezug zur eigenen Historie haben und den Wert einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft weder kennen noch fühlen.

"In der DDR hatten die doch auch Wahlen, das ist dann ja auch irgendwie demokratisch", hatte ein Schüler aufgetrumpft.
Nachteil: Wenige Einkaufsmöglichkeiten
Was Schroeder und sein Team dafür vorfanden, war eine starke Konsum-Orientierung. Als große Nachteile der DDR sahen viele Schüler zum Beispiel die mangelnden Einkaufs- und Reisemöglichkeiten. Als Vorteile des SED-Staates nannten sie dafür die Arbeitsplatzgarantie und die Kinderbetreuung.

"Die Qualität dieser Errungenschaften wurde aber überhaupt nicht hinterfragt", kritisiert der FU-Forscher. Er gewann eher den Eindruck, dass das Hochhalten der "sozialen" DDR etwas mit den eigenen diffusen Zukunftsängsten der Mädchen und Jungen zu tun hatte.

Nach all diesen Schocks mag es für die Forscher schon beruhigend gewesen sein, dass fast alle Schüler die deutsche Wiedervereinigung begrüßten und die Mehrheit auch hinter dem System der Bundesrepublik Deutschland stand.

Ulrike von Leszczynski, dpa, 9.11.07
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01.01.2010