News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Friedrich Nietzsche: Das Leben als Experiment  
  "Werde, der du bist": Diese Aufforderung Friedrich Nietzsches an den Menschen, sich immer neu zu entwerfen, war das Thema eines Kolloquiums vor kurzem im Engadin, wo der deutsche Philosoph längere Zeit lebte. Bei der Tagung erörterten Fachleute Nietzsches Vorstellung, das Leben als Experiment zu führen.  
"Zukunftsfähigkeit des Menschen"
Christiaan Hart-Nibbrig, Literaturwissenschaftler an der Université de Lausanne, sprach von Nietzsches Postulat der "Zukunftsfähigkeit des Menschen". Der Mensch solle anfangen, seine Bindungen an soziale, religiöse oder ideologische Systeme abzustreifen.

Nietzsche lasse die Welt ständig neu entstehen; es ginge ihn darum, "die stabilisierenden Glaubenssätze des Subjekts aufzubrechen und sie zum Einsturz zu bringen". Ebenso wende er sich gegen "moralische Codierungen und die Überschätzung der Historie".
Gegen absolute Wahrheiten
Peter André Bloch, Direktor des Nietzsche-Hauses, das er aufgebaut hat, wies darauf hin, dass Nietzsche den Begriff einer absoluten Wahrheit ablehnte. In einem Brief an Cosima Wagner schrieb er: "Es gibt keine Wahrheit. Die Wahrheit ist eine Illusion, von der man vergessen hat, dass sie eine ist".

In der Setzung einer absoluten Wahrheit sah Nietzsche einen Hang zur Dogmatisierung, die mit Intoleranz verbunden ist. Hier liegen auch die Wurzeln der verschiedenen Fundamentalismen, die ihre Wahrheit mit Gewalt durchsetzen.
...
Zur Veranstaltung
Das Kolloquium "'Werde, der du bist'. Stile des Lebens und des Schreibens bei Nietzsche" wurde von der Stiftung Nietzsche-Haus in Sils-Maria veranstaltet.
->   Nietzsche-Haus - Sils-Maria
...
Gegen Staat, Kirche und Universität
Laut Bloch richtete sich Nietzsche speziell gegen drei Instanzen, die den Menschen bedrängen: Erstens der Staat, der mit seinem strikten Regelsystem den Einzelnen bevormundet; zweitens die Kirche, die den Menschen mit einer Sklavenmoral ausstattet; und drittens die Universität, die durch ihre Spezialisierung die zum Universalismus tendierende Natur des Menschen einengt.
Gefahr der Decadence
Nietzsche ruft zwar zur Ablehnung dieser normierenden Systeme auf, zeigt aber gleichzeitig eine Gefahr auf: Die Unfähigkeit, ohne verbindlichen moralischen Forderungskatalog zu leben. Diese Unfähigkeit ortete Nietzsche - so der in Padua lehrende Philosoph Franco Volpi - bei der literarischen Décadence-Bewegung in Frankreich.

Dazu zählte er Gustave Flaubert, Théophile Gautier, die Brüder Goncourt und vor allem Charles Baudelaire. Nietzsche beschrieb das Grundgefühl der Schriftsteller: "Einstweilen befinden wir uns in einem Stollen voller Dunkelheiten. Der Hebel fehlt uns, die Erde entgleitet uns unter den Füßen".
Langeweile und Ekel
Das Fehlen eines absolut gültigen Normensystems produziert das Unvermögen, Handlungen zu setzen. Ein Gefühl der Resignation kommt auf, das in Verzweiflung, Enttäuschung und Ekel umschlägt. Folgen davon sind Langeweile und Ekel - "das gleiche, ewige Schöpfen aus dem Nichts in die Leere, das gleiche Wassertreten".
"Von der Lust, im Eis zu leben"
Gegen das Grundgefühl der Décadence hilft ein Kälteschock: Nietzsche singt ein Loblied auf die Kälte - so der in Potsdam lehrende Philosoph Christoph Menke: eine kalte, glasklare Analyse all jener Normen, die den Menschen einengen, ist erforderlich. Die Sentimentalität des Décadence-Künstlers ist dabei nicht gefragt:

Die Analyse zeigt, "dass der Glaube erfriert, ein Irrtum nach dem anderen wird auf das Eis gelegt, es erfriert das Genie, der Heilige, unter einem dicken Eiszapfen erfriert der Held, das Ding an sich". Die von Nietzsche angesprochene Kälte erweist sich als Signatur der Moderne: "Der Geist muss kalt sein, sonst wird er familiär" (Gottfried Benn).
Experimentalphilosophie
Die "Kaltwasserkur gegen die Decadence" ist die Voraussetzung für ein experimentelles Leben, das sich nicht um moralische Gebote kümmert: Die Experimentalphilosophie Nietzsches - "das Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes" - orientiert sich am menschlichen Leben.

Das Individuum soll in zahlreichen Experimenten lernen, für sich selbst neue Werte schaffen. Christiaan Hart-Nibbrig sprach von einem "Subjekt in permanenter Neugenerierung", das "essayistisch" lebe.

Das experimentelle Leben ersetze die metaphysische Grübelei durch die "Lehre von den nächsten Dingen": "auf Küche und Ernährung, Vegetarismus und Beefsteakgenuss, auf alkoholische Getränke und Tabakrauchen, auf die Vortrefflichkeit des Wassertrinkens, die Untunlichkeit von Kaffee und Tee, auf die förderlichen und die hinderlichen Wirkungen von Aufenthaltsort und Klima" (Nietzsche).
Herrschaft über das Chaos
Das Experimentieren darf jedoch nicht als wahllose Aneinanderreihung von Erlebnissen verstanden werden. Vielmehr bedarf es der Formgebung des eigenen Lebens - der Ausbildung eines Lebensstils. Auf Nietzsches Frage "Was ist Decadence?" lautet die Antwort: "Die Erzeugung des Chaos".

Als Gegenbewegung bezeichnet er "die Kraft, über das Chaos Herr zu werden, das man ist". Diese Formgebung der eigenen Existenz ist "großer Stil", die Wirkung besteht in einer außerordentliche Singularität, in einer "Vergöttlichung des Daseins".
"Intelligente Sinnlichkeit"
Die Formgebung der eigenen Existenz im großen Stil löst nach Hart-Nibbrig Erlebniszustände von intensivster Qualität aus. Es ist dies eine "intelligente Sinnlichkeit, die einem im Tiefsten erschüttert": "Eine Entzückung, ein unvollkommenes Außer-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder, eine Glückstiefe".

Die "intelligente Sinnlichkeit" gleicht der Transgression des französischen Schriftstellers und Philosophen Georges Bataille. Er versteht darunter eine Überschreitung, die "eine funkelnde und immer bejahte Welt, eine Welt ohne Schatten eröffnet".
"Großer Stil"
Den "großen Stil" sucht Nietzsche auch in der Schreibweise seiner philosophischen Werke: Er präsentiert seine Schriften nicht als eindeutige, endgültige Äußerungen, sondern als "Kampfplatz der Interpretationen". Lange, essayistische Betrachtungen wechseln mit Aphorismen in der Tradition der französischen Moralisten La Rochefoucauld oder La Bruyere ab.

Seinen Schreibstil bezeichnet der in Zürich lehrende Germanist Wolfram Groddeck als "hyperbolisch", als übertreibende und suggestiv überredende Ausdrucksweise. Sie repräsentiert den Überschwang der "intelligenten Sinnlichkeit".

Heinz Schlaffer, Professor für Literaturwissenschaft in Stuttgart, charakterisiert in einem kürzlich erschienenen Buch Nietzsches Stil als das Paradox eines entfesselten, von allen Schranken befreiten Wortes, das gerade so den großen Stil im Schreiben und Leben schaffen will. Nietzsches Prosa "heißt der Wunsch, mit Hilfe der Schrift über die Grenzen der Schrift hinauszugelangen".
"Ästhetik der Existenz"
Nietzsches Formgebung eines experimentellen Lebens, kann als Versuch betrachtet werden, eine "Ästhetik der Existenz" (Michel Foucault) zu gestalten. Wie der Künstler modelliert der Experimentalphilosoph sein Leben, versucht eine Ordnung im Chaos zu schaffen, die er selbst entworfen hat.

"Werde, der du bist" lässt sich dann so ausdrücken: "das Produkt des Philosophen ist sein Leben. Das ist sein Kunstwerk."

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, 16.11.07
...
Literaturtipps
Heinz Schlaffer: Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen, Hanser, 2007
Karl Heinz Bohrer: Großer Stil. Form und Formlosigkeit in der Moderne. Hanser, 2007
...
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010