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Pensionsvorsorge: Die Mythen der "Vergreisung"  
  Politik und private Pensionsversicherungen pfeifen es von den Dächern: Da die Menschen immer länger leben, werde die öffentliche Altersversorgung langsam unfinanzierbar. Weniger Pension, längere Arbeitszeiten und mehr private Vorsorge seien die Konsequenz. Stimmt nicht, meint der Volkswirt Gunther Tichy von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.  
Die drei der Debatte zugrundeliegenden Befunde "demografische Belastung", "Vergreisung" und "Unfinanzierbarkeit" hält er für Mythen. Anlass für den Gastbeitrag von Tichy ist eine Veranstaltung der Donau-Uni Krems, bei der heute und morgen Mediziner, Ökonomen, Demografen und andere die neue "Langlebigkeit" diskutieren.
Wissenschaftlich Mythen um Demografie und Altern
Von Gunther Tichy

Alle Industriestaaten altern, Japan etwas rascher, die USA etwas langsamer als Europa. Verunsichert durch Ideologen, Geschäftemacher und Medien zweifelt die Bevölkerung an der Finanzierbarkeit der Pensionen.

Verunsicherung und Angst wachsen, beruhen allerdings nicht auf kühler Analyse sondern auf sorgsam tradierten Mythen, dem demografischen Belastungsmythos, dem Vergreisungsmythos und dem Unfinanzierbarkeitsmythos.

Keiner von diesen drei kann einer sorgsamen wissenschaftlichen Überprüfung standhalten.
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An der Donau-Universität Krems findet von 10. bis 11. Dezember das Symposion "Gesünder länger leben" statt.
->   Das Symposion
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Der demografische Belastungsmythos
Der demografische Belastungsmythos besagt, dass die Zahl der "Alten" zunehmen, die der "Jungen" hingegen abnehmen würde. Das ist richtig: Derzeit kommen vier "Junge" auf einen "Alten", 2050 werden es nur noch zwei sein, die Belastung verdoppelt sich scheinbar.

Tatsächlich sagt diese Zahl, die so genannte demografische Belastungsquote, gar nichts über Belastung und Finanzierbarkeit der Pensionen aus. Denn es geht bei diesen Fragen nicht um "jung" oder "alt"; denn: Erhalten werden alle Nicht-Arbeitenden, ob jung oder alt, von den Arbeitenden.
Belastungsquote steigt nur um ein Zehntel
Erhalten müssen aber nicht bloß die "Alten" werden, sondern auch die Arbeitslosen, die Frühpensionisten und die Kinder, und keineswegs alle "Jungen" arbeiten. Tatsächlich müssen schon derzeit 4,04 Mio. Arbeitende 4,06 Mio. Nicht-Arbeitende erhalten, die Belastungsquote beträgt also schon jetzt 101 Prozent, und sie wird bis 2050 auf etwa 110 Prozent steigen; die Belastung wird sich also keineswegs verdoppeln sondern bloß um etwa ein Zehntel zunehmen.

Denn das Schrumpfen der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wird zu einem Mangel an Arbeitskräften führen, der Arbeitslosigkeit und Frühpensionierungen drastisch reduzieren wird; deren Abnahme aber zählt doppelt, weil nicht bloß nicht mehr erhalten werden müssen, sondern ganz im Gegenteil selbst wieder Beiträge zahlen.
Der Vergreisungsmythos
Das Alles mag schon stimmen, sagt der Vergreisungsmythos, aber das steigende Durchschnittsalter der Bevölkerung, vor allem der Arbeitenden, wird die Produktion verringern, weil Ältere generell weniger leistungsfähig sind als Jüngere.

Wiederum ein falscher Schluss aus einer grundsätzlich richtigen Beobachtung! Im Laufe des Alterns mag die individuelle Leistungsfähigkeit zurückgehen - obwohl durchaus nicht unumstritten ist, ob ein 55-jähriger tatsächlich weniger leistungsfähig ist als ein 45-jähriger; doch individuelles Altern ist etwas durchaus Anderes als das Altern einer Gesellschaft infolge steigender Lebenserwartung.

Vor allem die beschwerdefreie Lebenserwartung ist in den letzten Jahrzehnten stark angestiegen, und ein Ende dieses Trends zeichnet sich nicht ab: Ein heute 60-Jähriger ist nicht nur im Sport leistungsfähiger als ein 50-Jähriger zur Zeit unserer Großeltern. Wir können daher getrost davon ausgehen, dass in Zukunft mehr ältere Leute arbeiten als heute, und dass sich am Trend der Produktivität wenig ändern wird.
Der Unfinanzierbarkeitsmythos
Damit erweist sich auch die Unfinanzierbarkeit der Pensionen als Mythos. Aus der wahrscheinlichen Entwicklung von Arbeitsmarkt und Produktivität lässt sich schließen, dass das Bruttonationalprodukt pro Kopf im Jahr 2050 um mindestens die Hälfte höher sein wird als heute, wahrscheinlich sogar mehr als doppelt so hoch.

Zu betonen ist: Das Bruttonationalprodukt pro Kopf, also für jeden durchschnittlichen Arbeitenden und jeden durchschnittlichen Nicht-Arbeitenden, für jeden durchschnittlichen "Alten" und jeden durchschnittlichen "Jungen".

"Durchschnittlich" bedeutet natürlich nicht, dass jeder Einzelne tatsächlich besser gestellt sein wird; aber es ist unter den hier herausgearbeiteten Voraussetzungen geradezu lächerlich zu behaupten, dass die Pensionen unfinanzierbar wären; die ökonomischen Voraussetzungen dafür werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegeben sein.
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Quellen
Die Berechnungen des Textes beruhen auf folgenden Veröffentlichungen:
2005: Altern ist Leben - Ist es auch finanzierbar? Intervention 2(2), 107-30.
2006: Demografie-Prognoseschwäche, Arbeitsmarkt und Pensionsfinanzierung, Wirtschaft und Gesellschaft 32(2), 149-165.
2007: Demografische Entwicklung in Österreich: Der hochgespielte Generationenkonflikt, in K. Biehl und N. Templ Hg, Europa altert - na und? Wien: Arbeiterkammer, 33-42.
2008: The economic consequences of demographic change: Its impact on growth, investment and the capital stock, erscheint in Intervention.
->   Intervention.Zeitschrift für Ökonomie
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Die richtigen Probleme angehen
Natürlich wird es einiger Anpassungen von Verteilungsmechanismen und der Aufgabe lieb gewordenen Gewohnheiten bedürfen. Vor allem wird das tatsächliche Pensionsantrittsalter steigen müssen: Obige Abschätzungen gehen davon aus, dass die Erwerbsquote der 50- bis 65-Jährigen von derzeit 48 Prozent auf 70 Prozent steigt, den Wert, den die skandinavischen Staaten schon heute erreicht haben.

Auch werden Finanzmittel im Transfersystem umverteilt werden müssen: Von der Arbeitslosenversicherung (weniger Arbeitslose) und den diversen Familien- und Kinderunterstützungen (weniger Kinder) zur Pensionsfinanzierung (mehr Pensionisten).

Wir werden uns aber auch um die Schaffung altersgerechter Arbeitsplätze bemühen müssen, um lebenslanges berufsbegleitendes Lernen und um höhere Mobilität, um rechtzeitige Umschulungen und nicht zu letzt, um einen höheren Stellenwert der Präventivmedizin.

Das alles sind durchaus schwierige Aufgaben, und wir sollten uns rasch diesen tatsächlichen Problemen zuwenden, statt untätig über die angebliche Unfinanzierbarkeit der Altersversorgung zu philosophieren, letztlich also den Kopf in den Sand zu stecken.

[10.12.07]
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Über den Autor
Tichy Gunther, Univ.-Prof. i. R. Dr., Karl-Franzens Universität Graz, Österreichische Akademie der Wissenschaften
->   Mehr über Gunther Tichy
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->   Donau-Universität Krems
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01.01.2010