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Studie: Österreicher auf südosteuropäischen Baustellen  
  Bei den letzten Erweiterungen hat die Europäische Union mehrere neue Mitglieder aus Süd- und Osteuropa aufgenommen. Das hat seine Spuren auch auf Baustellen hinterlassen. Aber nicht nur so, wie man sofort vermuten würde: dass zahlreiche Polen, Ungarn und Rumänen in Österreich arbeiten. Umgekehrt haben auch österreichische Bauarbeiter die neuen Mitgliedsstaaten als Arbeitsorte entdeckt. Der Grazer Soziologe Franz Heschl hat sie nach ihren Erfahrungen befragt.  
Der "transnationale Arbeitsmarkt", wie Heschl ihn bezeichnet, ist erst durch die Erweiterungen der EU um Länder im Süden und Osten möglich geworden. Österreichische Bauunternehmen nutzen die Gelegenheit zur Internationalisierung, manche Bauarbeiter zum beruflichen Aufstieg, wie sie in Interviews mit Heschl beschreiben.
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Die Studie "Steirische Bauarbeitnehmer in Ost- und Südosteuropa. Zur Transnationalisierung des österreichischen Arbeitsmarkts im europäischen Integrationsprozess" ist in der "SWS-Rundschau" (Heft 4/2007, S. 424-444) erschienen.
->   "SWS-Rundschau"
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Konzerne internationalisierten, ...
Dass sich durch die EU-Erweiterungen nicht nur für Arbeitnehmer aus dem Osten neue Chancen eröffneten, sondern auch für Menschen in den "alten" EU-Staaten, beschreibt Franz Heschl, Soziologe an der Arbeiterkammer Steiermark, anhand von - nicht repräsentativen - Fallbeispielen.

Als Branche wählte er die Bauindustrie. In Österreich gibt es drei große Baukonzerne, die sich seit den Erweiterungsrunden der EU 2004 (Tschechien, Ungarn, Slowakei, Polen, Slowenien etc.) und 2007 (Bulgarien und Rumänien) stark in diesen Ländern engagieren: Porr, Strabag und Alpine Mayreder.
... aber auch die Menschen
Gleich zu Beginn stellt Heschl klar: "Auf den Baustellen (...) der großen österreichischen Baukonzerne in Ost- und Südosteuropa arbeiten in erster Linie Ost- und Südosteuropäer, Österreicher sind klar in der Minderheit."

Und die sieben Bauarbeiter, mit denen Heschl qualitative Interviews geführt hat, zeigen deutlich: Es sind nicht die Hilfsarbeiter, die auf Baustellen in Rumänien, Ungarn und Slowenien wechseln, sondern Menschen mit zumindest Facharbeiterausbildung.

Projekte ihrer Unternehmen in Ost- und Südosteuropa stellten für alle die Möglichkeit dar, sich beruflich zu verbessern und in der betriebsinternen Hierarchie aufzusteigen. Alle wechselten vom Arbeiter- ins Angestelltenverhältnis, und manche sahen es auch als Möglichkeit, dem Unternehmen die eigene Einsatzbereitschaft und Flexibilität zu beweisen.
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Gezielte Strategie
Mit welcher Konsequenz die EU-Erweiterung als Karrierechance begriffen wurde, zeigt einer der für die Studie interviewten Bauarbeiter: "Ja, das war für mich ein Grund, warum ich mich weitergebildet habe, die Ostöffnung", erklärt Herr E.. Er absolvierte die Polierschule und Werkmeisterprüfung und ließ sich betriebsintern auf eine Liste von Leuten setzen, die an einer Arbeitsstelle in Ost- bzw. Südosteuropa interessiert waren. Nachdem ihm sein Betrieb nicht sofort einen Job mit der höheren Qualifikation anbieten konnte, wechselte Herr E. nach 20 Jahren Zugehörigkeit das Unternehmen. Der neue Dienstgeber schickte ihn gleich nach Slowenien.
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Sprachkenntnisse als Qualifikation immer wichtiger
Die Sprachunterschiede nehmen die interviewten Bauarbeiter bzw. -angestellten nicht als besondere Schwierigkeit wahr. Ein Gesprächspartner erwähnt, dass er auch in Wien auf Baustellen gearbeitet habe, wo viele verschiedene Sprachen verwendet wurden - verstanden habe man sich letztlich immer.

In Ost- und Südosteuropa werden teilweise Dolmetscher eingesetzt, zunehmend werden aber auch von den technischen Mitarbeitern die entsprechenden Sprachkenntnisse verlangt. "Das Anforderungsprofil an Mitarbeiter der Bauwirtschaft verändert sich markant", schreibt Heschl.
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Pendeln: 6,25 Jahre "verfahren"
Pendeln gehört für Menschen aus ländlichen Gebieten, die in der Bauwirtschaft arbeiten, zum Alltag - wohin gependelt wird, ist nachrangig. Auf Basis der Angaben eines Interviewpartners, der 40 Jahre lang mindestens 25.000 Kilometer jährlich für den Job hin- und hergefahren ist, kalkuliert Soziologe Heschl den Verlust an Freizeit: In diesem Fall hat das Pendeln den Arbeitnehmers 6,25 (Arbeits-)Jahre "gekostet".
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Integrationsunwillige Österreicher
Die Interviewpartner erzählen auch von Anpassungsschwierigkeiten und unterschiedlichen Auffassungen. Sie berichten von Terminplänen, die nicht eingehalten werden, und geringem Verantwortungsbewusstsein bei den ost- und südosteuropäischen Mitarbeitern.

Ein Gesprächspartner erwähnt aber auch umgekehrte Integrationsschwierigkeiten: So hätten in Bulgarien phasenweise viele Österreicher als Poliere oder Bauleiter gearbeitet. Oft hätten sie sich aber isoliert, wären arrogant aufgetreten und hätten ihre Ziele verfehlt. Das habe dazu geführt, dass derzeit von diesem Unternehmen keine Österreicher mehr nach Bulgarien geschickt werden.
Transnationale Soziologie nötig
Durch die EU-Erweiterung "sind neue Formen transnationaler Arbeitsteilung auf dem europäischen Bauarbeitsmarkt entstanden", so Franz Heschl abschließend. Er fordert von seiner Disziplin, der Soziologie, sich vom Konzept des Nationalstaats zu lösen. Ansonsten bestehe die Gefahr, solche grenzüberschreitenden Dynamiken zu übersehen.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 17.12.07
->   Franz Heschl (Österr. Gesellschaft für Soziologie)
->   EU-Erweiterung (Wikipedia)
Mehr zur EU-Erweiterung in science.ORF.at:
->   Europa neu - ein Europa der gemeinsamen Werte? (8.11.06)
->   Nationalismus kein Widerspruch zu EU-Identität (20.3.06)
->   "Imagined Community": Bilder für eine europäische Identität (26.5.04)
 
 
 
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01.01.2010