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Friedrich Kittler: Der Wahnsinn der Massenmedien  
  Medien bestimmen laut Friedrich Kittler sämtliche Bezüge der Menschen zur Welt. Ein Song von Pink Floyd ("Brain Damage") ist für den Medienwissenschaftler ein Musterbeispiel, wie Produkte der Popkultur selbst thematisieren, was sie "in unseren Hirnen" anrichten. Der Publizist Christoph Weinberger folgt diesen Spuren in einem Gastbeitrag und versucht den Wahnsinn im Zeitalter der Medien zu lokalisieren.  
Brain Damage im Zeitalter der Medien
Von Christoph Weinberger

Wenn ich Stimmen in meinem Kopf höre, die nicht die meinen sind, brauche ich nicht zwangsläufig wahnsinnig geworden sein. Ich könnte auch bloß Kopfhörer aufhaben. Doch bin ich nicht dadurch in den zweifelhaften Genuss gekommen, zu erleben, was ein Schizophrener erlebt? So plakativ die These, so zwingend ist sie auf einer formalen Ebene. "Wahnsinn ist eine Metapher von Techniken", lautet daher eine zentrale Behauptung des deutschen Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler.

Am Beispiel des Songs "Brain Damage" von Pink Floyd diskutiert das Enfant terrible seiner Zunft, inwiefern Mass-Media-Acts selbst thematisieren, was sie in kultureller und psychischer Hinsicht anstellen. Dass das eine ganze Menge ist, zählt zu den Grundannahmen Kittlers.

Seine deterministische Sicht, wonach Medien sämtliche Weltbezüge der Menschen bestimmen würden, hat seit den 1980erJahren unter dem Begriff "Medienmaterialismus" in Deutschland Hochkonjunktur. "Medien" meint dabei aber nicht bloß Massenmedien, sondern alle jene materiellen Formen, die Daten "übertragen, verarbeiten und speichern" können: Also alles vom Buch bis hin zum Computer.
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Christoph Weinberger hält am Montag, den 17. Dezember 2007 um 18.00 c.t. am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel "Brain Damage im Zeitalter der Medien: Wahnsinn als Simulakrum". Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien.
->   IFK
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Pink Floyd: Götter der Ohren
Eigentlich, so Kittler in seinem Aufsatz "Der Gott der Ohren", braucht der Song "Brain Damage" gar keine Beschreibung. Der Hirnschaden ist ja immer schon angerichtet. Was genau angerichtet ist, wie Pink Floyd damit künstlerisch umgehen, ist Kittler dann aber doch eine 18-seitige Analyse wert.

Der Song erzählt als Shortstory von "Ohr und Wahnsinn im Zeitalter der Medien". Der Song erweist sich bei Kittlers genauerem Hinlesen und -hören als performativer Nachvollzug der Geschichte moderner Schallaufzeichnungs- und Wiedergabetechnologien.
"Der Irre ist im Kopf"
Pink Floyd stehen, man schaue in einer beliebigen Rockenzyklopädie nach, dafür, neue soundtechnische Maßstäbe gesetzt zu haben. Übersteuerte Verstärker, das Mischpult als fünftes Instrument, durch den Raum kreisende Töne: "Brain Damage" vom Millionenseller "Dark Side of the Moon" von 1973 resümiert, was diese technischen Möglichkeiten an neuen Erfahrungen möglich machen.

"The lunatic is in my head", heißt die entscheidende Zeile, die Kittler aufgreift. Der Irre ist also im Kopf, aber eben nicht in dem von irgendeinem Menschen, sondern dem des massenmedial geschulten Hörers. Dank elektronischer Klangmanipulation, "Rundumsounds" und Kopfhörern "geht die Trennung zwischen klangerfülltem Umraum und klangerfülltem Hirninnenraum" verloren.
Musik kommuniziert technische Bedingungen
Es sei nicht mehr klar, ob das, was durch die Ohren Eingang findet, nicht schon von selbst im eigenen Kopf stattfindet. "Brain Damage" reflektiert genau das. Der Song inszeniert, wie uns unbenannte Stimmen belagern. Eine andere Stimme, nämlich die Roger Waters, erklärt hilflos: "There's someone in my head, but it's not me".

Dieses "someone", das sich da meldet, ist aber genau genommen nicht nur nicht ich, sondern auch kein "someone", vielmehr ein "something". Nämlich Technik auf dem damals neuesten Stand der Dinge.
"Hirnschadenmusik"
Anstatt eine bestimmte Botschaft mitzuteilen, kommuniziere Rockmusik à la Pink Floyd ihre eigenen technischen Bedingungen. Nicht von Liebe oder sonst welchen Themen wird gesungen, sondern von der "Rückkopplung" zwischen Sound und Hörern, soweit Kittler über "Hirnschadenmusik".

Wenn Wahnsinn aber für jedermann simulierbar ist, hat das weitreichende Folgen. Das Gegenüber, die Vernunft, verschwinde, wenn zentrale Sprechakte in unserer Gesellschaft keine individuellen Reden mehr sind, sondern grundsätzlich Mass-Media-Acts, "anonyme und kollektive Veranstaltungen". Der Begriff des Wahnsinns löst sich im Falle der Kittlerschen Pink Floyd Lektüre auf. Der Irrsinn, meint Kittler provokant, ist somit "die Wahrheit und umgekehrt".
Zwischen Genie und Wahnsinn
Der Hirnschaden, den Medien anrichten oder eben erlebbar machen, spiegelt sich nicht nur in den Songs von Pink Floyd. Auch für Kittlers eigenen medientheoretischen Wahnsinn ist damit Tür und Tor geöffnet. Rauschhafte, übertreibungskünstlerische Textexzesse bereiten dem Autor, wie oftmals auch dem Leser, Lust.

Kittlers Suggestivkraft, die Faszination, die seine Schriften auslösen, sind eng gebunden an seine rhetorischen Strategien und Textmanöver. Wenn nichts mehr vernünftig ist, ist alles erlaubt, was Medien eben erlauben. Und das kann ja dann wieder vernünftig beschrieben werden. In Form eines fröhlichen Positivismus des Funktionierens.

Da Lust aber nicht alles ist, bleibt die Frage: Was kann man nun von Kittler lernen, welche Bedeutung haben seine Bestandsaufnahmen? Der berühmt-berüchtigte Satz, dass "Medien unsere Lage bestimmen, die (trotzdem oder deshalb) eine Beschreibung verdient", bringt auf den Punkt, was auch heute, gut 20 Jahre später, sowohl bedenklich als auch bedenkenswert ist.
Medien können einiges mit uns anstellen
Sounds, Klänge, sinnloser Zufall und Ähnliches können vermehrt in den Blick der Kulturwissenschaften gerückt werden. Auch was scheinbar keine Bedeutung hat, kann bedeutsam werden. Zu zeigen ist, was Medien mit uns anzustellen in der Lage sind.

Die Grenzen der symbolischen Formen sind nicht die Grenzen unserer Welt. Übertreibungskünstler liefern ja nicht deskriptive Beschreibungen, aber dafür umso wichtigere Hinweise.

Kittler als Bildungsfernsehen, das tote Winkel aufspürt und neue Räume eröffnet? Ein Werkzeugkasten, der hilft, Kultur in ihrer Komplexität erklärbar zu machen? Irgendwie schon. Noch immer. Trotz aller Undifferenziertheiten des wirkmächtigen Vorreiters.

[17.12.07]
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Christoph Weinberger studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Er betreibt derzeit ein Doktoratsstudium im Fachbereich Philosophie an der Universität Wien, derzeit Junior Fellow am IFK. Diverse Publikationen in österreichischen Tageszeitungen als Kultur- und Wissenschaftsjournalist (u. a. in: "Die Presse").
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01.01.2010