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Castoriadis: Zehnter Todestag des Autonomie-Denkers  
  Cornelius Castoriadis ist einer der am meisten unterschätzten Denker des 20. Jahrhunderts. Er war ein Tausendsassa der Wissenschaften, Ökonom, praktizierender Psychoanalytiker und Philosoph, der mit neuen Begriffen versuchte, das Sein zu deuten. Im Mittelpunkt seines Schaffens stand das Streben nach individueller wie gesellschaftlicher Autonomie. Am 26. Dezember jährt sich sein Todestag zum zehnten Mal.  
Im Abseits trotz Lobs von Habermas
Bild: EPA
Cornelius Castoriadis 1982
"Castoriadis hat den originellsten, ehrgeizigsten und reflektiertesten Versuch unternommen, die befreiende Vermittlung von Geschichte, Gesellschaft, äußerer und innerer Natur noch einmal als Praxis zu denken", schrieb Jürgen Habermas in den 1980er Jahren.

Während Habermas der wohl bekannteste zeitgenössische Philosoph des deutschen Sprachraums ist, ist und war Cornelius Castoriadis weit weniger bekannt. Dies liegt vor allem an der Radikalität des französischen Philosophen, Sozialwissenschaftlers und Psychoanalytikers.

Als radikaler Vertreter der Aufklärung und des Projekts der Autonomie stand er im Frankreich der Postmoderne und der Dekonstruktion immer im akademischen Abseits.
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Ö1-Radiohinweis
Ö1-"Dimensionen" am 20.12. um 19.05 Uhr: "Cornelius Castoriadis. Denker der Autonomie. Eine Sendung zum 10. Todestag eines unbekannten Philosophen."
->   oe1.ORF.at
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Aufklärung verstanden als Projekt der Autonomie
Castoriadis widmete sein Leben dem Versuch, die Aufklärung weiterzudenken. Er verstand sie als Projekt, durch das Menschen mehr Autonomie erlangen können. Und das war für ihn nicht nur etwas, das die Menschen fern in der Zukunft anstreben sollen. Autonomie liegt in gewisser Weise jeder Gesellschaft zugrunde.

Jede Gesellschaft schafft ihre eigene Wirklichkeit, begründet ihre eigenen Institutionen, wie es Castoriadis nennt. Den meisten Gesellschaften ist das Wissen über den Ursprung ihrer Institutionen jedoch im Lauf der Geschichte abhanden gekommen. Und das führt laut Castoriadis zur Selbstentfremdung.
Im antiken Athen erstmals formuliert
Castoriadis kannte nur zwei Gesellschaften, die sich ihrer Einrichtung durch sich selbst bewusst gewesen sind. Die eine ist die Gesellschaft Westeuropas, die ab dem Mittelalter die Ideen der Aufklärung und Emanzipation entwickelt hat. Die andere ist die Gesellschaft der griechischen Antike. In Athen wurden zur gleichen Zeit Philosophie, Demokratie, Politik und das Projekt der Autonomie zum ersten Mal formuliert.

David Ames Curtis, ein ehemaliger Mitarbeiter von Castoriadis und Übersetzer zahlreicher Bücher ins Englische: "Autos und nomos kommt aus dem Griechischen und bedeutet, sich selbst die Gesetze zu geben. Das verweist auf die griechische Antike und auf die Idee: Wenn man weiß, dass man sich die Gesetze selber macht, dann weiß man auch, dass man sie unter Umständen ändern kann."
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Demokratie und Philosophie - Aspekte der Autonomie
Castoriadis war knapp vor seinem Tod vor zehn Jahren für einen Vortrag in Wien. Damals meinte er: "Demokratie, demokratische Politik und Philosophie sind nicht das Ergebnis natürlicher oder spontaner Tendenzen der Gesellschaft und Geschichte, sondern sie sind Schöpfungen. Kreationen, die einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit bringen, mit allem, was der traditionelle Zustand von Gesellschaften war. Demokratie und Philosophie sind beide Aspekte des Projekts der Autonomie."
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Von Istanbul über Athen nach Paris
Geboren wurde Cornelius Castoriadis am 11. März 1922 in Istanbul. Seine Eltern müssen mit ihm kurz nach der Geburt nach Athen fliehen. Unter der rechtsextremen Diktatur des griechischen Generals Ioannis Metaxas beteiligt sich Castoriadis früh an der radikalen politischen Opposition.

1942, als bereits die Nazis in Griechenland sind, schließt er sich den Trotzkisten an und setzt sich so zwischen alle politischen Lager. Die Trotzkisten werden sowohl von der Gestapo als auch von den Stalinisten der Kommunistischen Partei verfolgt. Viele seiner Freunde werden inhaftiert, gefoltert und ermordet. 1945 kehrt Castoriadis Griechenland deshalb den Rücken und geht nach Paris.
"Sozialismus oder Barbarei"
Mit Gleichgesinnten gründet Castoriadis 1948 dort die Gruppe "Sozialismus oder Barbarei", die von Beginn an gegen den "bürokratischen Kapitalismus" anschreibt, den sie weltweit auf dem Vormarsch sieht.

Mit Karl Marx bricht die Gruppe zu einem Zeitpunkt, als der überwiegende Teil der Linken noch brav einer Meinung ist mit der mächtigen Kommunistischen Partei Frankreichs. Prominente Mitglieder sind der später postmoderne Jean-Francois Lyotard und der Philosoph Claude Lefort.
Psychoanalyse für selbstbestimmtes Leben
Ab 1960 wendet sich Castoriadis verstärkt der Lehre von Sigmund Freud zu und absolviert eine Ausbildung zum Analytiker. Ab 1974 praktiziert er selbst. Sein Projekt der Autonomie kann er damit an zwei Fronten verfolgen: gesellschaftlich mit den Mitteln seiner Philosophie und individuell mit den Mitteln der Psychoanalyse.

Castoriadis versteht sie als Praxis, die es Menschen ermöglicht, sich von Zwängen zu befreien und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Aufgabe der Psychoanalyse sei es aber nicht nur, den Trieben zum Bewusstsein zu verhelfen, sondern ihnen auch einen Raum zu verschaffen, wo sie sich äußern können.
Ordnung in Frage stellen
Autonom ist ein Subjekt, das sein Begehren erkennt. Und das ist niemals nur eine Frage des Einzelnen, sondern verweist immer auch auf die Gesellschaft.

"Die Autonomie der Psychoanalyse ist nicht irgendeine 'Adaptierung' an den Stand der bestehenden Dinge, sondern das Gegenteil davon, weil sie genau die Fähigkeit bedeutet, diese Ordnung in Frage zu stellen", schreibt Castoriadis.
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Bücher von Castoriadis
Die Gesellschaft als imaginäre Institution, stw, Frankfurt 1990
Durchs Labyrinth, Seele, Vernunft, Gesellschaft, stw, Frankfurt 1983
Autonomie oder Barbarei. Ausgewählte Schriften Bd.1, Verlag Edition AV, Lich/Hessen 2006
Vom Sozialismus zur autonomen Gesellschaft. Ausgewählte Schriften Bd.2.1, Verlag Edition AV, Lich/Hessen 2007
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(Wieder-)Entdeckung durch Erinnerung an 1968?
Vielleicht bietet das kommende Jahr eine Chance zur Entdeckung oder Wiederentdeckung von Castoriadis. 2008 wird unter anderem auch an das bewegte Jahr 1968 erinnert. Einer der wichtigsten Protagonisten der 68er-Generation ist bis heute Daniel Cohn-Bendit. Sein Bruder Gabriel war lange Zeit Mitglied in der Organisation von Castoriadis' "Sozialismus oder Barbarei".

Wie die beiden später zugaben, haben sie sich in ihren eigenen Schriften stark an Castoriadis orientiert. Und so ist der unbekannte Philosoph der Autonomie und des Imaginären doch prominent an fast jeder zweiten Pariser Hauswand verewigt gewesen. Mit den Worten "Die Phantasie an die Macht".

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 25.12.07
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Weiterführende Literatur
Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, stw, Frankfurt 1988
Alice Pechriggl/Karl Reiter (Hg.): Die Institution des Imaginären, Turia und Kant, Wien 1991
Ulrich Rödel (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, edition suhrkamp, Frankfurt 1990
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->   Agora International/Cornelius Castoriadis Website
->   Association Castoriadis
->   Castoriadis blog
->   Verein für das Studium und die Förderung der Autonomie
->   Verlag Edition AV
 
 
 
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01.01.2010