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Standardwerk über Wiener NS-Zeit neu aufgelegt  
  Dem März 1938 in Wien und den folgenden 18 Monaten bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges widmet der Historiker Gerhard Botz das umfangreiche Sachbuch "Nationalsozialismus und Wien."  
Bei der Neuauflage des Standardwerks stieß Botz auf bisher unbeachtete Dokumente zu erschütternden Plänen der Nazis für die tschechischen Bürgerinnen der Stadt.
Wien als "Laboratorium des Weltuntergangs für Juden"
Erst 70 Jahre ist es her. Die Stadt Wien in den Jahren 1938/39 sieht der Historiker Gerhard Botz von der Universität Wien als beispielhaft dafür, wie der Nationalsozialismus aufgebaut wurde - auf politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ebene: "Ein Segment greift in das andere über und dynamisiert das andere."

Botz nennt als Beispiele die Arbeitsmarkt- und die Wohnungspolitik: "Das Thema Wohnungspolitik ist ganz zentral, da es aufs Engste mit der Radikalisierung der Verfolgung von Juden verbunden ist, aber auch mit der geplanten Deportation der Wiener Tschechen. Dabei handelt es sich um eine Größenordnung von bis zu einer halben Million Menschen."
"Minderheitenstelle" in der Wiener Johannesgasse
Bisher wenig von Historikern beachtet: In Wien gab es von den Nazis eine "Minderheitenstelle" für tschechische Einwohner - ein geheim arbeitendes Büro erstellte unter Kontrolle der SS eine Kartei. Die tschechischen Bürgerinnen und Bürger Wiens seien von Gestapo und Parteigenossen verstärkt kontrolliert worden und tschechische Vereine und Schulen geschlossen worden, so Botz.

Das NS-Regime fürchtete laut Botz vor allem die Assimilation und pflegte den Mythos von Wien als der "größten tschechischen Stadt". Der Historiker spricht von der "Paranoia des Rassengedankens" - denn die Nazis hätten auch entfernte Verwandtschaft und Sprachkenntnisse zum Anlass genommen, die Zahl der Tschechen in Wien als besonders hoch darzustellen.

Von 400.000 Menschen war laut Botz 1938/39 die Rede, doch weise hingegen die "harte Statistik" 94.000 auf.
"Endlösung" für tschechische Bürger
Auch der Begriff "Endlösung" sei in diesem Zusammenhang verwendet worden, so Botz, allerdings noch mit vager Bedeutung - von Assimilation über Vertreibung bis zur Ermordung. Zu diesem Zeitpunkt sei noch nicht zwingend und ausschließlich die Massenvernichtung mit dem Begriff gemeint gewesen.

SS-Chef Heinrich Himmler richtete als "Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums" am 9. Mai 1940 an Reichsinnenminister Frick folgendes Schreiben:
"[...] Ich sehe in der Ausschaltung des tschechischen Bevölkerungsanteiles im Sudetenland und in der Ostmark [...] eine der wichtigsten Aufgaben [...] Ich kann es aber nicht für gut halten, diese Aufgaben über das bisher Geleistete hinaus während der Dauer des Krieges der vorgesehenen gesetzlichen Regelung und Endlösung [sic!] zuzuführen."
(Quelle: "Nationalsozialismus und Wien, S. 595.)

Die damals von den Nazis sogenannte "Tschechenfrage" sei schließlich ad acta gelegt worden, so Gerhard Botz - allerdings nur wegen des Kriegsverlaufs. Doch sagte im Juni 1942 bei einer Veranstaltung der "Deutschen Arbeitsfront" Gauleiter Baldur von Schirach: "So wie ich diese Stadt judenfrei machen werde, werde ich sie auch tschechenfrei machen." (Quelle: "Nationalsozialismus und Wien, S. 597.)

Barbara Daser, Ö1-Wissenschaft, 6.3.08
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Zum Buch
"Nationalsozialismus und Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39" von Gerhard Botz, erschienen im Mandelbaum-Verlag 2008. Das Standardwerk ist erstmals vor 30 Jahren erschienen und wurde nun anlässlich des Gedenkjahres überarbeitet und neu aufgelegt.
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->   Gerhard Botz
 
 
 
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01.01.2010