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Erinnerung in Bosnien: Bruce Lee als Idealbesetzung  
  Die Stadt Mostar ist seit dem Jugoslawienkrieg geteilt: vor allem zwischen muslimischen Bosniern und christlichen Kroaten. Unzählige Symbole drücken in der Stadt die Vielfalt und vermeintlichen Gegensätze der Ethnien aus. Vor knapp drei Jahren ist ein Denkmal dazugekommen, das diese Gegensätze überwinden möchte: ein lebensgroßes Denkmal des Kung-Fu-Schauspielers Bruce Lee.  
Bruce Lee als gemeinsame Identifikationsfigur für alle und in weiter Folge Kultur im Allgemeinen könnten die tiefen Gräben eines Tages vielleicht füllen, meint die Literaturwissenschaftlerin Kerstin Germer in einem Gastbeitrag. Anlass ist eine Tagung über Erinnerungskultur in Zeiten der Globalisierung am IFK in Wien.
Film - Neue Perspektiven für Mostar?
Von Kerstin Germer

Der 9. November ist in mehrfacher Hinsicht ein zentrales Datum für die jüngste europäische Geschichte:

Während 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer einer der größten Schritte in Richtung eines zusammenwachsenden Europas erfolgte, erlangte die Stadt Mostar am 9. November 1993 traurige Berühmtheit, als die Brücke, die ihr den Namen gab (in der Landessprache heißt Brücke Most), während des Bosnienkrieges unter kroatischem Beschuss in sich zusammenfiel.

Die Brücke war nicht nur Sinnbild der Stadt, ihr "Fall" steht auch symbolisch für den Zerfall Jugoslawiens und somit heute noch für eines der größten Probleme des wachsenden europäischen Integrationsprozesses, dem sich unser Projekt im Rahmen des Studienkollegs zu Berlin gewidmet hat.
Bis heute zutiefst gespaltene Stadt
Bild: EPA
Die wiederaufgebaute Brücke in Mostar
Obwohl die alte Brücke von Mostar 2004 wiederaufgebaut wurde, ist die Stadt über ein Jahrzehnt nach Ende des Krieges noch immer gespalten. Während im bosniakischen Ostteil von Mostar vorwiegend Muslime leben, gibt es im kroatischen Westteil eine mehrheitlich katholische Bevölkerung.

Nach dem Krieg kam es zu einer Teilung der Stadt, die bis heute in der Trennung sämtlicher Institutionen des öffentlichen Lebens zum Ausdruck kommt.

In Mostar gibt es alles doppelt: zwei Universitäten, zwei Schulsysteme, zwei Kulturzentren, zwei Fernsehstationen, zwei Mobilfunknetze, zwei Müllabfuhren, zwei Fußballclubs. Selbst Kanalisation und Polizei laufen getrennt.
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Tagung in Wien
Vom 6. bis 8. März findet am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften die Tagung "Memories in an age of globalization" statt, an der auch Kerstin Germer teilnimmt.
Ort: 1010 Wien, Reichsratsstraße 17
->   Mehr über die Tagung
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Früher eine Stadt der Begegnung und Kultur
Einer der wenigen Orte für beide Seiten, eine Art Brücke zwischen Ost- und Westteil der Stadt, ist das Jugendzentrum Abrasevic. Hier gibt es Ausstellungen, Lesungen, Konzerte, Theater- und Filmvorführungen, mit denen versucht wird, an den kosmopolitischen Geist anzuknüpfen, für den Mostar vor Ausbruch des Krieges 1992 bekannt war.

Als eines der kulturellen Zentren des ehemaligen Jugoslawiens zog Mostar Künstler aus aller Welt an, die sich von der Schönheit der Landschaft und den vielfältigen Einflüssen dieses speziellen Ortes inspirieren ließen. Moslems, Katholiken und serbisch-orthodoxe Einwohner fanden in Mostar gleichermaßen Raum, um ihren Glauben zu entfalten und formten das Stadtbild nicht nur architektonisch.

In der Stadt an der Neretva konnte sich eine ganz besondere Lebensart entwickeln, die gezeichnet von Bildung und kulturellem Reichtum Mostar zu einer Stadt der Kunst und des kulturellen Austausches werden ließ.
Bruce Lee als Integrationsfigur
 
Bild: AP/Amel Emric

Heute stoßen im Abrasevic vor allem die Filmvorführungen bei den Jugendlichen beider Seiten auf Resonanz, da es in Mostar seit dem Krieg kein Kino mehr gibt. Stattdessen besitzt die Stadt nun aber eine Bruce-Lee Statue, deren Enthüllung im November 2005 international für Schlagzeilen sorgte.

Die Organisation Urban Movement Mostar wählte mit Bruce Lee ganz bewusst einen Filmstar als gemeinsame Identifikations- und Integrationsfigur für beide Seiten, der in Assoziation mit Gerechtigkeit und dem Kampf für ein besseres Mostar den neuen und alten Weg weisen soll.
Kultur zur Versöhnung?
Bild: Branimir Prijak
Die Einweihung 2005
Der Kung-Fu- und Filmheld sowie das ersehnte, aber nicht vorhandene Kino führten uns zu der Frage, welche Rolle Film und kulturelle Initiativen in dieser vom Krieg gezeichneten Stadt spielen. Können sie einen Beitrag zu Kommunikation und Versöhnung zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen leisten? Welche Perspektiven gibt es für und in Mostar?

Vielleicht bleiben einige dieser Fragen unbeantwortet. Die Reise im Rahmen des 5. Jahrgangs des Studienkollegs zu Berlin ermöglichte dafür einen umso persönlicheren Einblick in die Stadt Mostar, in der die Spuren des Krieges noch nicht verwischt sind.

Der daraus hervorgegangene Dokumentarfilm "...a story about us" schildert die Alltagsrealitäten von Studenten beider Seiten und lässt Kunst- und Kulturschaffende in Mostar zu Wort kommen. Schüler und Lehrer des United World College, einem Ort an dem Schüler aus verschiedenen Nationen gemeinsam unterrichtet werden, erzählen von ihren Gedanken und Eindrücken.
Ausstellung zeigt persönliche Bilder
Mit Hilfe einer Fotokameraaktion ist außerdem eine Ausstellung entstanden, deren Konzept "past - present - future" das Verhältnis von vergangenem Krieg und Gegenwart widerspiegelt: Mit dem Verteilen von Einwegkameras bekamen die Bewohner von Mostar Gelegenheit, ihre eigene Perspektive auf ihre Stadt zum Ausdruck kommen zu lassen und zu zeigen, wie präsent die Vergangenheit für die Bevölkerung von Mostar tatsächlich noch ist.

Die Bilder der Bevölkerung erzählen ganz eigene Geschichten der geteilten Stadt Mostar und heben ihre gegenwärtigen Widersprüche umso mehr hervor: Spielende Kinder auf dem Friedhof, Häuserruinen, die fast schon künstlerisch anmuten, vom Krieg gezeichnete Alltagsgegenstände, Fotos von Einschusslöchern und Zerstörung neben Bildern von familiärem Zusammenhalt.

Ebenso unterschiedlich wie übereinstimmend stellen sie eines als zentral für den Blick auf Mostar heraus: die Perspektive.

[6.3.08]
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Über die Autorin
Kerstin Germer studierte Germanistik. Seit 2007 ist sie Assistentin am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bamberg. Im Jahr 2007 nahm sie teil an einem Forschungsprojekt, in dem die Rolle kultureller Akteure bei Konfliktlösungen untersucht wurde.
->   Kerstin Germer, Uni Bamberg
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->   Einweihung der Bruce Lee Statue in Mostar (26.11.05)
->   Das schwere Schicksal der Denkmale (oe1.ORF.at)
->   Statue of Bruce Lee in Mostar (Wikipedia)
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Ausstellung
Die angesprochene Ausstellung mit dem Titel "Mostar: past - present - future" war Teil der Projektpräsentation und von Mai bis Dezember 2007 in der Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, zu sehen. 2008 sollen die Bilder an den Ort ihrer Entstehung zurückkehren und in Mostar ausgestellt werden.
->   Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
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01.01.2010