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Das Leben gerettet, die Heimat verloren
Das Schicksal eines NS-Flüchtlings
 
  130.000 Österreicher flohen in den Jahren 1938 bis 1941 vor dem NS-Terror ins Ungewisse. Damit retteten diese Menschen ihr Leben. Der Preis: Sie verließen ihre Heimat, ließen alles zurück und mussten "Reichsfluchtsteuer" bezahlen, um Papiere zu bekommen. Eine von ihnen war die Wienerin Liselotte Laub, die mit 13 Jahren auf einem Flüchtlingsschiff Österreich verließ.  
Auf sie wartete kein gelobtes Land, sondern eine fremde Welt mit nicht immer gastfreundlichen Menschen. Und auch wenn ihr ein Existenzaufbau in der Fremde gelang, blieb der Heimatverlust ein lebenslanges Trauma.
Über Nacht vogelfrei
Bild: ORF
Die Wiener Urania mit Hitler-Transparent
"Auswandern für mich als Kind, allein, war eine sehr schwierige Sache. Man ist einfach ein Nichts", so die Eindrücke der Wienerin.

Sie stammt aus einer Wiener Zahnarztfamilie. Der Vater dient vor seiner Medizinerlaufbahn bei der k.u.k. Armee des alten Österreich als Offizier - wie so viele Männer aus großbürgerlichen jüdischen Familien. Das Judentum spielt keine große Rolle in der politisch progressiv eingestellten Familie. Es ist bloß eine Tradition, ohne religiöses oder zionistisches Bewusstsein.

"Plötzlich durfte ich nicht einmal mehr in die Schule gehen. Ich verstand nicht warum, weil ich war immer eine gute Schülerin und hatte viele Freundinnen." Liselotte Laub war zwölf, als mit dem Anschluss am 12. März 1938 auf einmal die nationalsozialistische Rassenpolitik in Österreich Realität wurde.
"Ich fühlte mich wie eine Aussätzige"
 
Bild: Dokumentationsarchiv des ¿sterr. Widerstands

Die Folgen der Teilung einer Gesellschaft in "Herrenmenschen" und "Untermenschen" bekommt sie am eigenen Leib zu spüren. Bereits in den Tagen rund um den "Anschluss" wird sie mehrfach angerempelt und geschlagen.

"Junge Nazis haben uns gezwungen, die drei Pfeile der Sozialdemokraten von der Strasse zu reiben. Die Burschen haben die Männer am Bart gezogen und angespuckt. Andere Leute sind herumgestanden und haben gelacht. Ich werde das nie vergessen."

Die Familie beschließt zu fliehen - wie zehntausende andere auch. Rund 70.000 österreichische Juden verlassen im ersten Jahr nach dem "Anschluss" das Land - vor allem nach der sogenannten "Reichskristallnacht" im November 1938.
Der Jud muss weg, das Gerschtl bleibt da
 
Bild: ORF

Das NS-Regime nutzt die Not der Menschen systematisch aus. Bis Herbst 1941 versuchen die Nazis die Flucht zu fördern, auch mittels Bürokratie. In Wien wird von Adolf Eichmann das Zentralamt für jüdische Auswanderung eingerichtet. Hier werden alle Ausreiseformalitäten erledigt, freilich gegen hohes Entgelt.

Mindestens 50 Prozent des Vermögens werden als "Reichsfluchtsteuer", "Judenvermögensabgabe", "Passumlage" etc. einbehalten. Dazu kommen Reisekosten, Gebühren und Bestechungsgelder.

Bereits vor dem Anschluss ist nur eine Minderheit der jüdischen Österreicher wohlhabend, fast ein Drittel lebt unterhalb der Armutsgrenze.

Im Bild oben eine Auswandererstelle, die gerade von Menschen gestürmt wird.
Die Welt macht ihre Grenzen dicht
Viele Länder verlangen eine hohe Einreisegebühr, und die meisten schließen ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge. Die Situation verschärft sich mit den Jahren, ungeachtet der Tatsache, dass nach der systematischen Vertreibung die Massenvernichtung folgt. Mit dem Auswanderungsstopp beginnt Holocaust.
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Flüchtlingsströme aus Österreich
Von den 130.000 Menschen, die Österreich nach dem Anschluss verlassen, entweder als rassisch oder politisch Verfolgte, wurde die Hälfte in europäischen Ländern, vor allem Großbritannien aufgenommen - verbunden allerdings mit der jahrelangen Angst, durch den deutschen Vormarsch vom NS-Terror wieder eingeholt zu werden. Knapp 30.000 Menschen fanden Zuflucht in den USA, die trotz Einwanderungsregelung zu einem der wichtigsten Aufnahmeländer wurde. 15.000 Österreicher kommen nach Palästina, einem der wenigen Länder, in dem die Grenzen nicht dicht gemacht werden.
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Eine Familie wird zerissen
Liselotte Laub und ihre Eltern haben im Frühjahr 1939 alle Papiere beisammen - doch die Familie wird zerrissen: Liselotte bekommt einen Platz in einem Kindertransport nach Palästina - ihre Eltern haben aber keine Möglichkeit, legal dorthin zu kommen und fliehen nach Shanghai.

Liselotte wird ihre Mutter erst 15 Jahren später wieder sehen, den Vater gar nicht - er stirbt in Shanghai in einem Internierungslager.
Letzte Hoffnung Heiliges Land
Liselotte Laub kommt alleine im damals englischen Protektorat Palästina an - sie ist eine von jenen, die im Rahmen der so genannten Kinder- und Jugend- Alliyah von der englischen Verwaltung Einreisepapiere bekommen.

Palästina ist alles andere als ein "gelobtes Land". Hier erwartet die Ankommenden unfruchtbare Wüste, anstrengendes Klima, keinerlei Infrastruktur und vor allem die blutigen Auseinandersetzungen mit der arabischen Bevölkerungsmehrheit, die sich von den jüdischen Einwanderungswellen bedroht sieht.

Um die Lage zu beruhigen, gibt die englische Verwaltung auch nur beschränkt Einreisepapiere aus. Dennoch: durch die Not der jüdischen Bevölkerung in Europa wird Palästina immer mehr zur letzten Hoffnung. Wer nicht legal einreisen kann, kommt eben illegal.
Gerettete werden zu Rettern
 
Bild: Privat

Liselotte Laub (im Bild oben eine aktuelle Aufnahme) hat wie die meisten große Schwierigkeiten, sich mit den harten Bedingungen zurechtzufinden. Sie wird bei arabischen Angriffen in Jerusalem beschossen; das Land ist noch nicht einmal ein eigener Staat; die landwirtschaftliche Arbeit unter glühender Sonne ist anstrengend und es mangelt an den Dingen des täglichen Lebens. Auch hier geht es lange noch ums nackte Überleben.

Trotz dieser Herausforderungen vergisst die Generation von Liselotte Laub nicht, dass noch Zehntausende Menschen vom Holocaust bedroht sind.

So werden aus Flüchtlingen Fluchthelfer. Einige gehen sogar nach Europa zurück, um zu retten, wer noch zu retten ist. Andere empfangen an den Küsten Palästinas die illegalen Schiffstransporte aus Europa. So auch Liselotte Laub. Mit 17 Jahren geht sie zur paramilitärischen Organisation der Haganah, um Flüchtlingen zu helfen.
Österreich bleibt nur Erinnerung
Mit dieser gefährlichen Aufgabe und der Arbeit in einem landwirtschaftlichen Kibbutz baut Liselotte Laub, wie viele andere Österreicher, ein Land auf, das später der Staat Israel werden soll - Blut, Schweiß, Tränen für eine neue Heimat. Österreich bleibt nur eine Erinnerung.

"Ich kam als Kind hierher, was ich als Kind verloren habe, ist nicht mehr, ich habe auch niemanden mehr, der lebt in Österreich. Ich habe keinen Hass auf Österreich, aber ich würde auch nicht zurückkehren."

Tom Matzek, ORF Bildung und Zeitgeschehen, 12.3.08
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Programmhinweise
Im Rahmen eines mehrteiligen Dokumentationsschwerpunkts thematisiert der Film "Flucht ins Ungewisse", Donnerstag, den 13.3., um 21 Uhr, in ORF2 die Geschichte von vier Menschen, die nach dem Anschluss Österreich fluchtartig verließen - eine der porträtierten Personen ist Liselotte Laub.
Am Donnerstag, den 20.3. wird der "Alltag unterm Hakenkreuz" mit Amateurfilm-Material aus der Sicht der Bevölkerung erzählt.
->   Mehr zu der Dokumentation (tv.ORF.at)
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01.01.2010