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Wie sich Bulgarien Hitler-Deutschland widersetzte  
  Während heuer in Deutschland und Österreich 1938 im Zentrum steht, wird in Bulgarien dem Jahr 1943 gedacht: Am 10. März widersetzte sich das Land der Auslieferung von 8.600 Juden an Hitler-Deutschland.  
Insgesamt wurden 1943 fast 50.000 bulgarische Juden vor der Deportation gerettet. Zum Wochenbeginn fanden Gedenkfeiern in vielen bulgarischen Städten statt. Kränze wurden aber auch für über 11.000 bulgarische Juden niedergelegt, die dem KZ nicht entkamen.
Deklaration gegen Auslieferung
Es war der damalige Vize-Parlamentschef Dimitar Peschew, der der Rettung der Juden aus den Gebieten um Polwdiw (Plovdiv) und Kjustendil in Süd- bzw. Westbulgarien den Weg bereitete.

"Wir können nicht glauben, dass es Pläne gab, diese Menschen von Bulgarien wegzuschicken. Ein solcher Akt würde Bulgarien zu Unrecht stigmatisieren, moralisch wie auch politisch", lautete die Deklaration von Anfang März 1943. Auf sie folgte eine Petition gegen die Deportation der Juden.
"Wären heute in besserer Welt"
An den Widerstand des Rechtsanwalts und parteilosen Parlamentariers gegen die Anordnungen des damals mit Bulgarien verbündeten NS-Deutschlands, alle Juden zu deportieren, erinnerte der Sofioter Vorsitzende der jüdischen Organisation "Shalom", Alek Oskar.

"Wenn jeder von uns nur einen Tropfen von Dimitar Peschews Würde besitzt, werden wir in einer besseren Welt leben", sagte Oskar laut der bulgarischen Nachrichtenagentur BTA am Montag bei einer Gedenkveranstaltung vor dem Parlament in der bulgarischen Hauptstadt.
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Erst durch Biografie bekannter
Dimitar Peschew starb 1973 einsam, verarmt und ohne je offizielle Anerkennung erfahren zu haben, in Sofia. Erst Ende der 1990er machte ihn ein Buch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt: Seine Biografie "Der Mann, der Hitler stoppte. Dimitar Pesev und die Rettung der bulgarischen Juden - Ein zweiter Fall Schindler" erschien 2000 auf Deutsch im Siedler Verlag.
->   Mehr über das Buch (Perlentaucher.de)
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Bulgarisch-orthodoxe Kirche gegen Deportationen
Die besondere Rolle der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche hob dort auch der israelische Historiker Shlomo Shaltiel hervor. Ihr öffentliches Eintreten für die Juden sei zentral gewesen. Aber auch Schriftstellerverbände und Anwälte hätten sich gegen die Zwangsverschleppung der jüdischen Mitbürger ausgesprochen.

Tatsächlich ergriff der bulgarisch-orthodoxe Metropolit von Sofia und spätere Exarch Stefan anders als Papst Pius XII. (1939-1958) öffentlich Partei und appellierte an König Boris III., die Deportationen zu beenden.
Auch nach 1945 größere jüdische Gemeinde
Boris wurde zwar nach Deutschland zitiert, verweigerte Adolf Hitler die Auslieferung der Juden aber weiterhin. Der Druck auf die bulgarischen Juden ließ noch 1943 nach - anders als etwa in Ungarn, wo noch 1944 über 400.000 Juden nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden.

Bulgarien konnte nach Angaben des in London forschenden Holocaust-Historikers Martin Gilbert als einziges europäisches Land 1945 auf eine größere jüdische Gemeinde verweisen als vor dem Zweiten Weltkrieg. Ein Großteil der Juden wanderte aber noch vor bzw. unter kommunistischer Herrschaft nach Israel aus.
Trotzdem Kritik an König Boris
König Boris - dessen Sohn Simeon II. der letzte König von Bulgarien und 2001 bis 2005 bulgarischer Premier war - wird heute zumindest in Israel nicht mehr als "der" Retter der Juden gefeiert.

Er habe zwar womöglich die Juden in Bulgarien gerettet, zugleich jedoch kaltblütig jene in den besetzten Gebieten an Deutschland ausgeliefert, argumentieren seine Kritiker. Elftausend Juden aus den bulgarisch besetzten Gebieten im heutigen Nordgriechenland, Südostserbien und Mazedonien wurden im Todeslager Treblinka ermordet.

[science.ORF.at/APA, 12.03.08]
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01.01.2010