News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
1968: Die Facetten einer Bewegung  
  1968 steht als Metapher für eine Bewegung mit vielen Gesichtern: Jugendproteste, Emanzipation der Frauen, Aufbegehren gegen den Kapitalismus und Kolonialismus, Wertewandel - Stichwörter, die mit dem Jahr als Symbol verbunden sind. Der Soziologe Heinz Steinert meint, dass es vierzig Jahre danach höchste Zeit für eine Historisierung ist, und schildert in einem Gastbeitrag die unterschiedlichen Deutungen von 1968.  
"1968" - Deutungen und Umdeutungen
Von Heinz Steinert

"1968" wird als mediales Symbol für eine weltweite gesellschaftliche und politische Veränderung genommen, die etwa zwei Jahrzehnte, nämlich die 1960/70er Jahre umfasst. Es eignet sich für diese kulturindustrielle Festlegung wegen der gewalttätigen öffentlichen Auseinandersetzungen in den USA, bei den deutschen Oster-Unruhen, im Pariser Mai, im Zuge der Niederschlagung des Prager Frühlings, die als Spektakel auffallen und von denen es gute Bilder gibt.
Deutungen: Jugendbewegung ...
Die Deutung hängt davon ab, in welcher Entwicklung diese Ereignisse als Höhepunkt angesehen werden. Dabei ist die erste große Deutungsentscheidung, ob es sich um eine Jugendbewegung, um eine politische Bewegung oder um eine Kulturrevolution handelte.

Die Jugendbewegung geht in Europa und in den USA bis zu den Zazous, Rockers und Halbstarken, verbunden mit der künstlerischen Bohème der Existentialisten oder der Angry Young Men, in USA zu den Beats und Hippies der 50er und frühen 60er Jahre zurück. Eine Studentenbewegung wurde daraus erst spät, in den 1960ern.
... politische Bewegung ...
Als primär politische Bewegung konnte "1968" als Höhepunkt verschiedener Linien gesehen werden:

- In den USA geht es um die Bürgerrechtskämpfe der damals immer noch gesetzlich diskriminierten Schwarzen und um den Kampf gegen den Vietnam-Krieg.

- In Deutschland ist bestimmend der Kampf gegen große Koalition und Notstandsgesetze, positiv der um den Ausbau von Demokratie ("mehr Demokratie wagen", "Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie").

- Es geht um die Konstituierung einer "Neuen Linken", die sich von den Partei-Sozialismen abgrenzt und libertäre und anarchistische Ideen verarbeitet.

- In allen ehemals faschistischen Ländern richtet sich der antiautoritäre Impuls gegen Haltungen, die als Rest und Erbe der faschistischen und Nazi-Zeit verstanden werden, und gegen Personen mit einer solchen Vergangenheit in öffentlichen Ämtern.

- In der Frauenbewegung wird der antiautoritäre und der demokratische Impuls im Verlangen nach Gleichberechtigung und nach Auflösung der patriarchalen Herrschaft zusammengeführt.

- Schließlich wird eine Teilnahme an den internationalen Befreiungskämpfen, die sich auch als Teile der sozialistisch/kommunistischen Weltrevolution verstehen ließen, phantasiert bis mit verschiedenen Mitteln tatsächlich versucht.
... oder Kulturrevolution
Als Kulturrevolution geht es um einen grundsätzlichen "Wertewandel" zu demokratischen und antiautoritären Haltungen und, jenseits der rein materiellen Ziele früherer Phasen, zu einem hohen Anspruch auf demokratische Beteiligung.

Das kann erklärt werden aus dem gewachsenen Wohlstand, in dem man nicht mehr Not abwehren muss, sondern sich um die Gestaltung der besseren Zukunft kümmern kann; aus der spezifischen Arbeitsmoral, den Konsumhaltungen, die ein entwickelter fordistischer Kapitalismus hervorbringt.

Deutungen und Umdeutungen verabsolutieren gewöhnlich eine dieser Dimensionen oder spielen eine gegen die anderen aus.
...
Tagung zum Thema
Auf der Tagung "... zwei, drei, viele 1968 - Deutungen und Umdeutungen" am 24. und 25. April im Volkskundemuseum Wien werden die Auseinandersetzungen um ein angemessenes Verständnis diskutiert.
->   Mehr über die Tagung
...
Politisch ernst nehmen - oder doch nicht?
"1968" braucht politisch nicht ernst genommen werden,

- wenn es einfach eine "Jugendbewegung" war, noch dazu eine von "verwöhnten Bürgerskindern" oder von "weltfremden Ideologen" und ebensolchen "Links-Extremisten". Übersehen wird dabei, dass schon die 60er Jahre eine Zeit des Aufbruchs und der Reformen waren, die in verschiedenen Bereichen (Arbeitsrecht, Betriebsverfassung, Schule, Sozialarbeit, Strafrecht, Psychiatrie etc.) von den dort Tätigen betrieben wurden.

- wenn es ein "Generationenkonflikt", ein Aufstand der Söhne und Töchter gegen die eigenen Nazi-Väter war. Übersehen wird dabei, dass die politisch Aktiven überwiegend die Söhne und Töchter von linken und liberalen Eltern waren.

- wenn es eine "Kulturrevolution", angezettelt von Hippies und Gammlern, sexuell Enthemmten, Homosexuellen und Drogenabhängigen war. Übersehen wird dabei, dass eine Lockerung der Sitten gegenüber der autoritären Strenge der Vergangenheit schon seit den 50ern und auch, wenn nicht zuerst bei den Erwachsenen eingesetzt hatte.

- wenn es eine autoritäre Revolte war, die notwendig in den Terrorismus und/oder zu revolutionär-kommunistischen Partei-AO, ML- und maoistischen K-Gruppen führte. Übersehen wird dabei, dass diese autoritären Fraktionen klein waren und abgelehnt wurden. Der Hauptstrom der Bewegung war und blieb auch in den 70ern antiautoritär in Frauen-, Friedens- und Öko-Bewegung, in Kommunen und Alternativbetrieben.

- wenn es in Identifikation mit nationalen Befreiungsbewegungen, besonders mit den Palästinensern "anti-amerikanisch" und damit anti-demokratisch, sogar antisemitisch war. Übersehen wird dabei, dass die Entstehung einer "Neuen Linken" von den USA und der dortigen Bürgerrechtsbewegung ausging und sich in der Kritik am Vietnam-Krieg mit der Bewegung gegen diesen Krieg in den USA selbst identifizierte und solidarisierte. Dass die "Kulturrevolution" von den USA ausging und von der dortigen Populärkultur inspiriert war, ist ohnehin offensichtlich.
Zusammentreffen verschiedener Strömungen
In Abwägung der Deutungen kann man wahrscheinlich zusammenfassend und historisierend sagen, dass in den 1960/70er Jahren eine internationale Bewegung von antikolonialen Befreiungs- und Demokratisierungskämpfen mit dem ebenso internationalen Höhepunkt und krisenhaften Auslaufen der Produktionsweise des fordistisch eingehegten Kapitalismus zusammentraf.

Die Jugendbewegung ist auch ein Ergebnis von Fordismus auf seinem Höhepunkt und gab den Auseinandersetzungen einen zusätzlichen Impetus und eine besondere Färbung, zum Teil von Unernst, zum Teil aber auch von antiautoritärer Radikalität der Utopien jenseits von bescheidener Realpolitik.

[23.4.08]
...
Zum Autor
Heinz Steinert, Jg. 1942, Gründer und langjähriger Leiter des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie Wien; seit 1978 Professor für Soziologie an der J.W.Goethe-Universität Frankfurt am Main. Neueste Buch-Veröffentlichung: "Das Verhängnis der Gesellschaft und das Glück der Erkenntnis: Dialektik der Aufklärung als Forschungsprogramm", 2007.
->   Mehr über Heinz Steinert (Wikipedia)
...
->   Ausführlichere Fassung dieser Überlegungen
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010