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Gesucht: Vaterfigur  
  Die Säkularisierung der Gesellschaft, aktuelle Erziehungsdebatten und der Geburtenrückgang haben nach Ansicht des deutschen Philosophen Dieter Thomä mehr miteinander zu tun, als man zunächst annehmen würde: Alle drei sind Ausdruck einer allgemeinen Vaterlosigkeit, die sich in der Moderne verfestigt hat, schreibt er in einem Gastbeitrag.  
Vaterlosigkeit in der Moderne
Von Dieter Thomä

Gestritten wird derzeit mal wieder über den Mut zur Erziehung, also über Gebrauch oder Missbrauch von Autorität - und gefürchtet wird eine kinderlose Zukunft, ein demographisches Desaster in vielen europäischen Ländern. Zwei Probleme werden gewälzt, als bewegten sie sich auf getrennten Umlaufbahnen. Doch sie hängen zusammen, die Verbindung läuft über eine fixe Idee, die die moderne Gesellschaft von Beginn an begleitet: die Vaterlosigkeit - die Lust an ihr, die Not mit ihr, die Angst vor ihr, der Kampf gegen sie.
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Tagung in Wien
Vom 24. bis 26. April findet die Tagung "Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee" statt.
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Programm und Abstracts (IFK)
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Angriff auf Hierarchien
Hinter der Erziehungs-Debatte steckt die Frage, ob die Väter als alte Repräsentanten der Autorität heute ausgespielt haben. Und hinter der Demographie-Debatte steckt die Frage, ob die niedrigen Geburtenzahlen unter anderem auch durch einen "Zeugungsstreik" der Männer zustande gekommen sein könnten.

Bei den Meldungen zum Verschwinden der Väter handelt es sich jedoch nicht um rhetorische Schnellschüsse, die immer mal vorkommen, wenn die Stimmung nervös ist. Vielmehr haben sie eine lange Geschichte. Um zu verstehen, was heute mit der Gesellschaft, der Familie, den Vätern geschieht, muss man sich an das Generationenspiel halten, das die Moderne seit langem in Atem hält.

Die "vaterlose Gesellschaft", die durch Alexander Mitscherlich sprichwörtlich geworden ist, von der aber schon bei Sigmund Freud die Rede war, geisterte bereits durch die Gründungsszenarien der Moderne. In ihnen wurde der Angriff auf Hierarchien, die auf dem Modell der Vaterschaft fußen, lanciert.
Demontiert: Gott, König, Vater
Das Patriarchat, nach dem die Gesellschaft in der frühen Neuzeit geordnet ist, basierte auf einer Hierarchie, die gestaffelt in drei Größen auftrat. Der göttliche Vater autorisierte den Monarchen, und beide hielten ihre Hand über den Familienvater. Simpel war diese Welt geordnet, vornehm ging sie nicht zugrunde.

Der "Vater im Himmel" büßte seine Macht ein oder wurde geradewegs für tot erklärt; der König wurde geköpft oder entmachtet; die "väterliche Gewalt" in der Familie wurde demontiert. Damals war zwar nicht von der "vaterlosen Gesellschaft" die Rede, wohl aber schon von der Heraufkunft einer "vaterlosen Welt".

Es geht nun nicht darum, die Strategien der Entmachtung des Patriarchats zu widerrufen, wohl aber muss man sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass die aktuellen Debatten um die Krise der Familie Ausdruck einer Jahrhunderte währenden Krise sind, in der es nicht gelungen ist, die Neuordnung des privaten Lebens ins Lot zu bringen.
Brüderlichkeit im Generationenvakuum
Das neue Abenteuer des Zusammenlebens fand seinen Ausdruck in Schillers Gedicht-Zeile "Alle Menschen werden Brüder". Nachträglich vermisste man hier die "Schwestern", doch seltsamerweise hat man dabei einen anderen Punkt übersehen: Wenn alle Menschen Brüder (und Schwestern) sind, wer sind dann ihre Eltern?

An dieser Nachfrage wird deutlich, dass der Umbruch im Politischen nicht unbedingt harmonisch mit dem anstehenden Umbruch im Privaten zusammenspielt. Vielmehr wird in der Politik ein Prinzip eingeführt - das der "Brüderlichkeit" -, das mit der Familie eigentlich gar nicht zusammenpasst.

Unweigerlich bleiben hier doch Abhängigkeiten, Verbindlichkeiten, Hierarchien zwischen Alt und Jung bestehen, die nicht einfach vom Tisch gewischt werden können. Statt nun dieser besonderen Situation gerecht zu werden, lancierte man Strategien, die in der einen oder anderen Weise zum Vormarsch der Vaterlosigkeit beitrugen.
Väter als Randfiguren
In ihrer auffälligsten Form trat die Vaterlosigkeit überall dort auf, wo der Kampf gegen den alten Patriarchen gleich erweitert wird zu einem Kampf für die Abschaffung der Familie und für die Kollektivierung der Erziehung. Man kann kurzerhand sagen, dass all diese Experimente in Sackgassen endeten, dass also die Frage nach der Zukunft des Vaters wieder hochkam wie ein Stück Holz, das man vergeblich unter Wasser gedrückt hatte.

Doch man trifft noch noch auf eine andere, ziemlich unauffällige und alltägliche Form der Vaterlosigkeit. Sie war Ergebnis einer Entwicklung, die - wie man heute sagt - zur "Marginalisierung der Vaterschaft" geführt hat. Der Vater trat das Exil in die Berufswelt an und wurde in der Familie zu einer Randfigur. Der Vater überließ die Privatsphäre der Mutter, seine Macht beschränkte sich darauf, dass er ökonomisch am Drücker saß und pädagogisch gelegentlich seine Macht spielen ließ.

Das Geschäft auch dieser Väter war die Produktion von Vaterlosigkeit. Die Jugend wurde durch die abwesend-anwesenden Väter in einen inneren Zwiespalt, einen double bind getrieben, auf den sie mit Wut und Trauer reagierten. Wütend begehrten sie auf gegen Autoritäten, traurig suchten sie nach den Vätern, die sie im Alltag vermissten. Man denke nur beispielhaft an die Vatermord-Dramen des Expressionismus, die doch von Sehnsucht nach dem Vater überquollen.
Rückkehr zu positiven Vaterbildern
Wenn heute von den Haltungsschäden der Väter auf den Ermüdungsbruch der Familie geschlossen wird, wenn Männer der Vaterrolle überdrüssig sind und lieber an ihrer individuellen Selbstverwirklichung arbeiten - dann ist dies Ergebnis einer jahrhundertealten Verunsicherung, von der die Rolle des Vaters betroffen ist.

Die alten Strategien der Abschaffung oder der Ausgrenzung des Vaters haben in Sackgassen geführt: Die Idee der Kollektivierung des Generationenspiels ist längst desavouiert, aber auch das Modell des bürgerlichen Vaters, der halb anwesend, halb abwesend in der Familie herumgeistert, hat sich abgenutzt. Es ist also an der Zeit, die Moderne neu auf den Prüfstand zu stellen und herauszufinden, welche positiven Vaterbilder sie für das Leben nach dem Ende des Patriarchats bereit hält.

[25.4.08]
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Über den Autor
Von Dieter Thomä, Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen, erscheint im August beim Carl Hanser Verlag das Buch "Väter. Eine moderne Heldengeschichte".
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01.01.2010