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Philosophin Sarah Kofman: "Dem Tod ins Gesicht sehen"  
  Der Vater der französischen Philosophin Sarah Kofman wurde in Auschwitz ermordet, sie selbst beging 1994 Selbstmord. Der Tod spielt auch in ihrem letzten, unvollendeten Artikel eine wichtige Rolle. Er handelt von einem Bild Rembrandts, auf dem der Versuch zu sehen ist, den Schrecken des Todes mit Hilfe der modernen Wissenschaft zu überwinden. Spätestens der Holocaust zeigt die Brüchigkeit dieses Versuchs, meint die Philosophin und Kofman-Biographin Karoline Feyertag in einem Gastbeitrag.  
In der Lehrstunde des Dr. Tulp
von Karoline Feyertag

Der Sezierkurs stellt wohl nicht immer eine leichte Hürde im Medizinstudium dar. Ob nun mit Skalpell oder Baldriantropfen bewaffnet, irgendein Hilfsmittel scheint der Mensch zu brauchen, will er unter die Haut von seinesgleichen blicken.

Um heute die Faszination zu verstehen, die Rembrandt 1632 in seinem Gemälde "Die Anatomiestunde des Dr. Tulp" in Szene gesetzt hat, kann man an die aktuellen "Körperwelten" von Gunter von Hagens denken.
Rembrandt zeigt ein Theater der Anatomie
 
Bild: Rembrandt

Rembrandt van Rijn, Die Anatomie-Vorlesung des Dr. Nicolaes Tulp, 1632, Mauritshuis, Den Haag (Öl auf Leinwand, 163 cm × 217 cm)

Das anatomische Theater im frühen 17. Jahrhundert war der Ort eines gesellschaftlichen Spektakels: Dr. Tulp seziert die straffällige Hand eines kurz zuvor erhängten Diebes, das schaulustige Publikum hat Eintritt gezahlt, um dieser leicht gruseligen Performance beizuwohnen. Es wird etwas gezeigt, was es sonst nirgends zu sehen gibt.

Die Anatomie als Wissenschaft hat eine lange Geschichte und spätestens seit dem 17. Jahrhundert wird damit begonnen, die naturwissenschaftliche Technik des Aufschneidens und Zergliederns eines Körpers metaphorisch auf die "Anatomie eines Werkes" anzuwenden.

Die Philosophie unter Führung Descartes' beginnt sich der naturwissenschaftlichen Sprache zu bemächtigen.
Kofmans letzte Schrift: Bedingtheit der Philosophie
Sarah Kofman war hingegen eine Philosophin, die sich lieber an die Sprache der Kunst hielt. 1934 in Paris als Tochter jüdisch-polnischer Immigranten geboren, überlebte sie versteckt in einer Pariser Wohnung die Shoah im Gegensatz zu ihrem Vater, dem Rabbiner Berek Kofman.

Der traumatischen Erfahrung ihrer Kindheit hat Kofman ihre letzte Publikation gewidmet. "Rue Ordener, Rue Labat" ist ein autobiographisches Fragment, das eine klare Sprache spricht: Im Gegensatz zu ihren übrigen Büchern geht es nun nicht mehr um die Dekonstruktion des Wahrheitsanspruchs von Philosophen.

Indem Kofman von ihrer ganz persönlichen Geschichte berichtet, macht sie die historische und politische Bedingtheit von Philosophie explizit. Gleichzeitig setzt sie sich den Blicken ihrer eigenen "Gilde", ihrer Kollegenschaft an der Pariser Sorbonne aus.
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Vortrag in Wien
Karoline Feyertag hält am Montag, 28. April 2008, 18 Uhr c.t. den Vortrag "Dem Tod ins Gesicht sehen. Sarah Kofman in der Lehrstunde des Dr. Tulp".
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über die Veranstaltung (IFK)
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Wissenschaft ersetzt Religion
Nach der Veröffentlichung dieser Autobiographie nahm sich Kofman im Herbst 1994 das Leben. Erst nach ihrem Tod wurde noch ein weiterer Text publiziert, in dem es um das eingangs erwähnte Gemälde Rembrandts geht. Kofman äußert in dem Artikel "La mort conjurée" ihr Misstrauen gegenüber dem neuzeitlichen Glauben an die Aufklärung des Menschen durch Wissenschaft.

In ihren Augen nimmt das Buch der Wissenschaft, das in Rembrandts Bild zu Füßen des Leichnams aufgeschlagen ist, den Platz der Bibel ein. Eine Wahrheit ersetzt eine andere Wahrheit.
Die Kälte des biographischen Blicks
Rembrandts Auftraggeber Dr. Tulp verlangte kein Bild vom Triumph des Todes, sondern vom Triumph der Wissenschaft über den Tod. Der Wissenschaftler sieht im Kadaver kein Subjekt mit Lebensgeschichte mehr, sondern das Objekt seines Experiments.

Genau das ist auch das Problem einer Biographie: Inwiefern muss der wissenschaftliche Blick den Gegenstand seines Erkenntnisinteresses in ein lebloses Objekt umwandeln und sich von der eigenen Betroffenheit distanzieren?
Erinnerung an den Tod in Auschwitz
In Kofmans letztem Artikel wird deutlich, dass sie sich nicht mehr von der eigenen Betroffenheit angesichts des Todes distanzieren konnte oder wollte. Weder das wissenschaftliche Skalpell noch die philosophischen Baldriantropfen konnten ihr noch als "Hilfsmittel" dienen.

Nicht an ihre eigene Sterblichkeit wird sie angesichts der "Anatomiestunde" erinnert, sondern an den anonymisierten Tod, an den "Tod von Auschwitz". Der Leichnam in Rembrandts Bild wird zum Opfer einer gewalttätigen Körper-Justiz und -Medizin.

Kofman, aber auch andere Betrachter von Rembrandts "Anatomiestunde" - wie zum Beispiel Sebald in seinem Roman "Die Ringe des Saturn" - haben sich mit diesem Opfer identifiziert. Rembrandt gelang es hervorragend, diese Betroffenheit im Betrachter hervorzurufen.

[28.4.08]
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Über die Autorin
Die Philosophin und Kulturwissenschaftlerin Karoline Feyertag arbeitet an einer "philosophischen Biographie" zu Sarah Kofman, zurzeit ist sie Junior Fellow am IFK in Wien.
->   Karoline Feyertag, IFK
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->   Biographie Sarah Kofman
 
 
 
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01.01.2010